Ein weitere Empfehlung von Nils Aulike: Über die Himmelsscheibe von Nebra

Eine Reise in die Welt vor 3600 Jahren 

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Ein unbedingt lesenswerter Klassiker der archäologischen Sachbücher ist zweifelsohne C.W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte. Dieser „Roman der Archäologie“ nimmt die neugierigen Leser mit auf eine Reise – gewissermaßen aus erster Hand – zu allen großen archäologischen Entdeckungen der Vergangenheit, als wären sie dabei: die Entdeckung Pompejis, Heinrich Schliemann und Troja, Howard Carter und Tut-anch-amun, Champollion und die Entzifferung der Hieroglyphen, Ninive, Babylon, Montezuma, die Mayas und ihr Kalender…, die Liste ist so lang wie aufregend. Das Buch ist ein Streifzug durch die großen untergegangenen Staatswesen Südeuropas, Nordafrikas, Mesopotamiens, Mittel- und Südamerikas. Ein Buch, das die öffentliche Wahrnehmung der Archäologie geprägt hat wie kaum ein zweites seit seinem Erscheinen im Jahre 1949. Und in dem die Archäologie Mitteleuropas gänzlich fehlt.

Mit Harald Mellers und Kai Michels Rekonstruktion eines der bedeutendsten archäologischen Funde der vergangenen Jahrzehnte, der sogenannten Himmelsscheibe von Nebra, liegt ein umfassender Untersuchungsbericht und Deutungsvorschlag eines einmaligen Artefaktes vor, der überzeugend die Tatsache untermauert, dass den schillernden eingangs erwähnten Staatswesen mindestens ein klangvoller Name hinzugefügt werden muss: das Reich der aus den Schnurkeramiker- und Glockenbecherkulturen hervorgegangen Aunjetitz-Kultur.

Diese Kultur mit dem etwas sperrigen Namen steht auf einer Stufe mit den Kulturen, die, so die Autoren, den Fokus von Götter, Gräber und Gelehrte bilden, nur seien ihre Spuren deutlich weniger offenkundig. Grunderkenntnis der Untersuchungen der Himmelscheibe von Nebra ist, dass in den vermeintlich so hochkulturspurenlosen Mitteleuropa – zumindest in diesem einen Falle – von ähnlichen und gleichentwickelten Staats-Strukturen wie bei den eingangs erwähnten ausgegangen werden muss.

Im Mittelpunkt des Grabungs- und Forschungsberichtes steht die aus den archäologischen Befunden herauszulesende Soziologie von Herrschaft und die bisher für undenkbar gehaltene Möglichkeit eines über Jahrhunderte stabilen Staatenwesens in der mittleren Bronzezeit mit Zentrum im Saale-Unstrut-Gebiet, westlich von Leipzig. Die Himmelscheibe von Nebra und ihr Reich präsentieren sich vor einer wahrhaft europäischen Kulisse von Migration, Handel und Wissenstransfer, die unserer heutigen Zeit nur in wenigem nachsteht. Somit ist das Buch nicht nur Archäologie und Kulturgeschichte, sondern auch ein hintergründig wirkender Chronist für die Manifestation und den Fall von Gesellschaften.

Die anfängliche mediale Aufmerksamkeit, die der Himmelsscheibe von Nebra zukam, war mehr dem Raubgräberkrimi ihrer Entdeckung 1999 und ihrer Rettung für das Kulturerbe der Welt 2002 als ihrer, damals noch ausstehenden, Interpretation geschuldet. Harald Meller, Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale und des Landesamtes für Archäologie Sachsen-Anhalt, und der Wissenschaftsjournalist Kai Michel verlagern mit diesem Buch das Spektakuläre der Entdeckung auf die nicht minder spektakulären Ergebnisse der wissenschaftlichen Entschlüsselung und ihre logisch-plausiblen Ableitungen. Ein großartiges Kapitel in einem weitaus umfassenderen „Roman der Archäologie“, als ihn der verdienstvolle C. W. Ceram seiner Zeit hätte schreiben können.

Nils Aulike

Das Buch (als Paperback): Meller, Harald; Kai Michel, Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas, Berlin: Ullstein Verlag 2020; ISBN 978-3-548-06116-0; 16,-€