4. Platz: ‚Schwerelos‘ von Sofie Westholt und ‚Erinnerung‘ von Laurin Lenschow
Schwerelos
Der Bass vibriert gleichmäßig durch die Wände, Nebel verschleiert das Sichtfeld, Lichtblitze zucken durch den Raum, schwenken von links nach rechts, malen Muster an die Wand, wechseln Farben. Der Nebel und die Anzahl der tanzenden Menschen machen die Luft dick und sauerstoffarm, warm und verschwitzt. Der DJ wechselt von einem Remix zu einem Rockklassiker. Der Beat verändert sich, die Wände vibrieren in einem neuen Tempo, die Menschen passen sich blitzschnell an, tanzen, ihre Körper im Takt, Füße rhythmisch, Hüften kreisend, den Text singend, ausgelassen.
Mittendrin ein paar Luftballons, ganz schwarz. Ein Junge hebt einen Ballon auf, betrachtet ihn, bevor er ihn mit den Händen in die Luft wirft. Der Ball fliegt, senkt sich langsam nach unten, schwebt dem Boden entgegen. Der Junge tanzt zur Musik, die Füße stampfen ihren eigenen Beat, die Hände und Arme ergänzen den Move des Oberkörpers. Zwei Schritte nach vorne, der rechte Fuß, dann der linke auf der Stelle. Der rechte Fuß tanzt 16tel, der linke 8tel. Pause. Und von vorne. Die Arme zerschneiden die Luft, Hände spielen ein virtuelles Schlagzeug. Bevor der schwarze Luftballon auf Hüfthöhe sinkt, schlägt der Junge den Ballon erneut nach oben. Tanzt. Sinkt. Schlägt. Tanzt. Sinkt. Schlägt. Tanzt.
Und wer weiß schon, wer er ist. Die Haare, an der Seite kurzgeschoren und oben modisch hochgegelt, liegen auch nach einer Stunde tanzen wie am Morgen vor dem Spiegel. Das weiße T-Shirt mit V-Ausschnitt liegt locker über den blauen Jeans, Nike-Turnschuhe geben den tanzenden Füßen ihren Halt. Beim genaueren Hinschauen erkennt man leichte Schweißflecken unter den Achseln, eine schwarze Kette mit einem dicken, silbernen Anker auf der durchtrainierten Brust. Sein Gesicht ohne Bartstoppeln. Seine Haut ist etwas dunkler, doch vielleicht macht das auch nur das flimmernde Diskolicht, die wechselnden Farben, die Lichtblitze, die bewegten Scheinwerfer, die Licht wie Elektroschockimpulse durch den kleinen Raum jagen.
Der Ball fliegt durch den Raum, einem Mädchen entgegen. Sie tanzt mit offenen Augen, ihre Umgebung betrachtend, ihre Arme und Hände eng am Körper behaltend, mit ihren Füßen einen regelmäßigen Beat stampfend, bewegt sie sich in Kreisen um einen unsichtbaren
Fixpunkt. Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht, als der schwarze Ballon in ihre Richtung fliegt. In dem Blick des Jungens eine stumme Aufforderung. Das Mädchen schlägt den Ball in seine Richtung. Tanzt weiter. Lächelt. Der Ballon fliegt zu dem Jungen. Der hebt zwei Finger zu einem Peacezeichen und stupst den Ballon vorsichtig, doch bestimmt zurück in Richtung des Mädchens. Blickkontakt. Lächeln. Das Mädchen erwartet den Luftballon, reckt zwei Finger in die Höhe und stupst den Ball zurück.
Und wer weiß schon, wer sie ist und das sie eigentlich nie dazugehört. Ihre brustlangen, blonden Haare vom Tanzen zerzaust, lassen eine Frisur nur noch erahnen. Ihr weinrotes Kleid schlicht, unauffällig, doch zweifelslos stilvoll. Nackte Fußsohlen tapsen auf glattem Laminat, zu sehr in Bewegung, um zerquetscht werden zu können. Ihre Arme zieren unzählige Armbänder, Leder neben Silber und Stoff, kleine Anhänger baumeln im Takt ihrer Bewegungen. Sie ist schlank, ohne dünn zu wirken. Ihre Haut glüht durch die Nähe zu anderen Menschen und der Anstrengung, ihr Gesicht ist vom Tanzen gerötet. Doch vielleicht macht das auch nur das flimmernde Diskolicht, die wechselnden Farben, die Lichtblitze, die bewegten Scheinwerfer, die Licht wie Elektroschockimpulse durch den kleinen Raum jagen.
Sie bewegen sich zur Musik, Blickkontakt, ein Lächeln, Ballwechsel. Auf harte Schläge folgen neckisch zu kurze, auf zwei Finger die ganze Hand, auf ein Lächeln lachende Augen.
Der Beat ändert sich. Sie schlägt den Ball, klatscht zum Beat in die Hände. Er schlägt den Ball, klatscht in die Hände. Seine Füße tanzen, auf eins der rechte Fuß, auf zwei der Ballon, auf drei ein Klatschen. Sie dreht sich kokett während der Ballon ihm entgegenschwebt. Der Ball darf den Boden nicht berühren, das wissen beide. Verrenkungen, Sprünge, Tanz zur Musik. Für einen Moment Schwerelosigkeit. Sie tanzen. Sie lächeln. Sie sprechen.
Und wer weiß schon, was Sprache ist? Worte, Buchstaben aneinander gereiht. Jede Sprache hat ihr eigenes Geheimnis. Kommunikation. Verständnis. Lernen. Für diesen Moment sprachloses Verständnis. Körpersprache. Blickkontakt, ein Lächeln. Offene Arme, tanzende Füße. Ein Ball in der Luft und Musik als Richtungsgeber. Kommunikation ohne Worte. Verstehen mit den Augen. Lernen mit den Händen. Ich verstehe dich. Laute Wortlosigkeit. Sprachlos, doch nicht stumm.
Es ist ein Spiel. Hoch konzentriert. Es gilt keine ungeschriebenen Regeln zu verletzen. Nicht zu weit zu gehen. Grenzen in den Augen des Gegenübers erkennen. Und sich doch näher kommen, langsam. Er nimmt ihre Hand. Oder sie nimmt seine. Funken sprühen ohne Worte, ohne Rücksicht auf Herkunft. Er ist erst morgen früh wieder der Flüchtling. Und sie erst morgen früh wieder die Außenseiterin.
Sie sind heute Abend schwerelos. Tanzen ausgelassen. Tanzen schwerelos. Tanzen für sich miteinander. Der Beat übernimmt die Führung. Übernimmt die Bewegung. Schaltet das Gehirn aus. Für einen Moment keine Vergangenheit, keine Zukunft, kein jetzt, keine Gedanken, nur Gefühl. Keine Gedanken, schwerelos. Heute gehören sie einfach dazu. Heute sind sie nicht „willkommen“, kein „schön, dass ihr da seid“. Heute sind sie selbstverständlich.
April 2017, Copyright Sofie Westholt
Erinnerung
In der Nacht vom 24. auf den 25.12.2007 erhängte sich der demente Fabian Leander am Decken-balken seiner Wohnung in Alveslohe. Als ich ihn Heiligabend besuchte, wusste ich noch nicht, dass ich der Letzte sein sollte, der je mit ihm sprechen würde.
Es hatte schon den ganzen Tag über ein bitterer, kalter Wind geweht, der sich am Abend zu einem Schneeschauer ausgewachsen hatte. Die Straßen waren wie leergefegt, natürlich, es war Weihnachten, wir alle feierten die Geburt Christi – wobei sicher viele Menschen ihr Augenmerk auf andere Aspekte dieses religiösen Freudenfestes gelegt hatten. Ich hatte nur flüchtige Blicke für die hell erleuchteten Fenster zu beiden Seiten der Straße, durch die mit Schmuck überladene Tannenbäume zu sehen waren, die mir trotz ihrer Farbenpracht alle gleich erschienen. Die Straßenlaternen warfen auf den Schneematsch zu meinen Füßen ihr kaltes Licht, das so gar nicht zu der weihnachtlichen Stimmung allerorts zu passen schien.
In der einzigen Innentasche meines alten Ledermantels, den ich von meinem Vater zum 18. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, verbarg sich das Geschenk für meinen großen Bruder Fabian. Nach dem Tod unserer Mutter vor 11 Jahren, war ich der einzige aus der Familie, der noch für ihn da war, und ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, ihn zumindest Heiligabend zu besuchen. Ansonsten sah ich ihn nie, obwohl ich nur einige Straßen von ihm entfernt wohnte. Er verließ das Haus schon lange nicht mehr und ich mied wegen seiner beständig fortschreitenden Demenz meist seine Gegenwart. Mehr als einen Besuch im Jahr brachte ich nicht über mich, und jedes Jahr erschrak ich aufs Neue, wie weit die Krankheit bereits seinen Geist zersetzt hatte.
In solcherart Gedanken versunken erreichte ich Fabians Haustür. Eine dicke, mattierte Scheibe wurde von einem Rahmen aus altem, dunklem Holz eingefasst; das im Hausflur zu erkennende Licht schien mir jedes Jahr schwächer zu scheinen. Ich drückte drei Mal auf die Klingel und wartete unruhig. Es dauerte nicht lang, und im Haus waren tappende Schritte zu vernehmen. Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt breit, ein eisblaues Auge meines Bruders spähte hinaus und musterte mich einen Augen-blick. Dann zog er die Tür rasch ganz auf und ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem von feinen Fältchen durchzogenen Gesicht aus.
„Friedrich!“, rief er aus, und zog mich in eine plötzliche Umarmung. Ich stieß die angehaltene Luft aus meinen Lungen, erleichtert, dass er mich überhaupt erkannt hatte.
Drinnen war es angenehm warm, ich hängte meinen Mantel an einen alten, knorrigen Garderoben-haken. Das Wohnzimmer lieferte keinen Hinweis darauf, dass hier ein Mensch wohnte, den die Demenz bereits seit Jahren in ihren Klauen hielt. Rote Wachskerzen verbreiteten ein behagliches Licht, der in der Ecke stehende Schreibtisch war ordentlicher als mein eigener, was aber wohl daran lag, dass Fabian kaum je etwas schrieb. Seit Jahren drängte ich ihn, über all seine Gedanken und Erlebnisse Buch zu führen, doch er hatte es nie konsequent durchgehalten – vermutlich hatte er einmal den einen
oder anderen Eintrag geschrieben, das Notizbuch dann beiseite gelegt, und sich später gefragt, wem es wohl gehörte. Unaufgefordert ließ ich mich in einem abgewetzten Ohrensessel nieder und betrachtete gedankenverloren den ganz in Gold gekleideten Weihnachtsbaum. Ich musste lächeln. Es konnte passieren, was da wollte, aber Weihnachten würde er wohl nie vergessen. Mit einem leisen Ächzen ließ sich mein Bruder in den Sessel mir gegenüber fallen.
„Ich hätte dir ja ein Geschenk gekauft, wenn ich geahnt hätte, dass du mich besuchen kommst.“, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. Ich erwiderte das Lächeln, kam mir dabei jedoch irgendwie falsch vor. „Das macht doch nichts.“, sagte ich gezwungen, und reichte ihm den Umschlag, den ich ihm mitgebracht hatte. Mit den leuchtenden Augen und dem gespannten Blick eines Kindes bei der Bescherung öffnete er ihn. Er enthielt einige Fotos, wie jedes Jahr. Ich zog meinen Sessel neben seinen, und erklärte ihm, wen er sah.
„Schau mal: Das ist meine Frau, Teresa. Und das ist meine Stieftochter, Anna.“
Fabian zog eine Lesebrille aus seiner Hemdtasche und setzte sie auf.
„Donnerwetter, die sieht ja schon richtig erwachsen aus!“, rief er. Meine Halsmuskeln verspannten sich. „Das sollte sie auch, immerhin ist sie letzte Woche 39 geworden.“, erklärte ich mit einem krampfhaften Lächeln. „Und siehst du, das hier ist Phillip, Annas Sohn.“
„Und wie alt ist der jetzt?“
„Sieben. Vielleicht erinnerst du dich, letztes Jahr hatte ich dir auch Fotos von ihm gezeigt…“
„Nein, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, entschuldige.“
„Kein Problem.“
Eine kurze Pause entstand, in der wir beide den Weihnachtsbaum betrachteten und unseren eigenen Gedanken nachhingen.
„Weißt du, wann Mutter wiederkommt?“, fragte er dann.
„Was?“, ruckartig wandte ich mich ihm zu.
„Ich glaube, sie wollte irgendeine Nachbarin besuchen, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wen genau.“
Ich schluckte krampfhaft.
„Ich weiß es auch nicht.“, log ich dann.
Fabian nickte gedankenverloren.
„Langsam habe ich das Gefühl, dass diese Sache mit meinem Gedächtnis schlimmer wird.“, gestand er mir leise. Dass man sich nicht an Dinge erinnert, die weit zurückliegen, ist ja normal, aber langsam verschwinden auch die Erinnerungen aus meinem Kurzeitgedächtnis. Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr erinnern, was ich mir noch vorhin für heute Abend vorgenommen hatte.“ Tränen glänzten in seinen Augen. „Es ist, als würde ich mich selbst verlieren.“
„Das wird dir schon wieder einfallen.“, versuchte ich, ihn aufzumuntern.
„Meinst du?“
„Ganz bestimmt.“
Es entstand eine zweite Pause, für einige Minuten diesmal. Dann wandte er mir erneut den Kopf zu. „Weißt du, wann Mutter wiederkommt?“
Mir blieb fast das Herz stehen. Ich musste mich beherrschen, ihn nicht anzuschreien: Mutter ist tot!
Sie ist vor elf Jahren gestorben, als deine Demenz gerade begann, und ihre letzten Wort waren „Was soll jetzt nur aus meinem Fabi werden…“!!!
Ich würgte den Kloß in meiner Kehle herunter.
„Nein, das weiß ich nicht. Du, ich muss jetzt auch gehen, meine Familie wartet auf mich.“ Hastig stand ich auf; ich würde es keine Sekunde länger mit meinem Bruder aushalten. Im Flur angekommen warf ich mir meinen Mantel über. Mein Bruder tappte hinter mir her.
„Friedrich?“
„Ja?“ Ich wandte mich nicht um, wollte nur noch weg von hier.
„Was ich mir noch vorgenommen hatte, das ist mir jetzt wieder eingefallen.“
„Wirklich? Schön.“ Es war mir egal, und ich wollte es auch nicht hören. Als ich schon fast aus der Tür war, packte mein Bruder mich mit erstaunlicher Kraft am Arm. Seine Augen bohrten sich in meine. Dann lächelte er. „Danke – für alles.“
Perplex nickte ich ihm zu, und er ließ mich los.
Zu Hause bei meiner Familie angekommen verbannte ich jeden Gedanken an das Treffen aus meinem Kopf.
In der Nacht vom 24. auf den 25.12.2007 erhängte sich der demente Fabian Leander am Decken-balken seiner Wohnung in Alveslohe. Als ich ihn Heiligabend besuchte, wusste ich noch nicht, dass ich der Letzte sein sollte, der je mit ihm sprechen würde.
Oktober 2016, Copyright Laurin Lenschow
3. Platz Karina Buozys
Ohne dich, ohne mich
Ich möchte tanzen, ohne dich, alleine.
Mich losreißen von all den Zwängen, die du mir auferlegst, die mich zurückhalten von dem,
was ich sein könnte, von dem, was ich sein will.
Alles um mich herum steht viel zu fest. Oder bin es doch nur ich, die festsitzt?
Du kontrollierst mich, zwingst mich, jemand zu sein, der ich nicht bin. Du balancierst auf meinen engsten Grenzen.
Du flüsterst mir zu, sei ernst!, jetzt lach!, sei dies, sei das!
Du flüsterst mir zu, wie ich zu sein habe. Ich ertrage das nicht mehr.
Bisher hat es geklappt, ich habe mir nichts anmerken lassen, ich habe die Mauern und
Maskeraden aufrecht erhalten, doch die Masken müssen fallen.
Ich ertrage die Masken, die du vor mich hältst, nicht mehr. Ich muss sie loswerden, doch dein Blick fragt mich, wieso tust du das?.
Du willst die Kontrolle haben, um jeden Preis. Du sperrst mich ein, machst mich angreifbar,
verklemmt…unsicher.
Ich zerstöre mich, um höflich zu sein, um so zu sein, wie du mich haben willst.
Ich möchte ohne dich tanzen, ich möchte frei sein. Gib mir den Raum, mich fallen zu lassen,
mich zu verlieren, mich wiederzufinden, einfach zu verschwinden, zwing mich nicht, hier
zu bleiben und zu erblinden. Alles um mich herum ist viel zu eng.
Lass mich gehen und wiederkommen,
besser als ich war, anders, freier.
Ein einziges Mal. Lass es zu, dass ich mich verliere.
Aber wie kann ich frei sein, wenn du mich doch so fest in den Händen hältst?
Nimm deine Hände von mir, nimm sie von mir, bevor ich ersticke!
Wann merke ich endlich, wer mich fesselt, einsperrt, erdrückt?
Wer bist du? Mit wem spreche ich? Mit mir?
Wer nimmt sich das Recht, mich so zu behandeln? Gegen wen kann ich mich nicht wehren?
Wer bringt mich dazu, mich zu verleugnen? Wer nimmt mir meine Freiheit?
Ich?
Mit wem spreche ich?
Mit mir…
Wann lerne ich, mich selbst gehen zu lassen? Wofür tue ich mir das an? Sperre mich ein, in
mir?
Ich will alleine tanzen, mich selbst gehen lassen.
Ich brauche keine Choreografie, die mich führt. Ich sollte mich nicht lenken lassen, ich
sollte nicht wie eine Marionette an Fäden hängen, mich verbiegen für jemanden, der mich
doch eigentlich verstehen und unterstützen sollte.
Ich brauche mich, ohne Maske und Kostüme. Ich brauche die beste Version meiner Selbst,
die Version, die mir nicht im Wege steht. Dein Lächeln lacht mich aus, jetzt, wo du gehst.
Aber davon lasse ich mich nicht beeindrucken.
Ich werde alleine tanzen!
Liebes Ich… Lass mich los, lass mich frei, lass mich geh’n!
Lass mich einfach die sein, die ich sein will.
April 2017, Copyright Karina Buozys
2. Platz: Pernille Leu
Ausblicke
Als ich und mein Bruder als Kinder viel Zeit bei meiner Großmutter verbrachten, fand ich es anfangs nie seltsam, dass sie frühmorgens reglos am Fenster stand. Es machte mir höchstens ein wenig Angst, wenn ich früh aufwachte und mich aus dem
Zimmer stahl, um in der Küche schon mal einen Apfel oder einen Keks zu klauen, den ich möglichst leise essen würde, sodass mein Bruder nicht davon aufwachte.
Sie stand am Küchenfenster des Fachwerkhauses und starrte hinaus in den Garten.
Sie trug ihr langes, weißes Nachthemd und bewegte sich nicht, reagierte nicht auf mich, sah leblos aus, nur die Silhouette einer kleinen alten Frau gegen das graue Licht des Sonnenaufgangs, das die dünnen Vorhänge zu beiden Seiten des Fensters leuchten ließ.
Ich sprach sie nicht darauf an. Ich nahm an, dass sie weniger Schlaf brauchte als wir, dass es sich um ein morgendliches Ritual für sie handelte, so wie sie darauf bestand, dass wir uns vor dem Essen an den Händen nahmen und ein kurzes Gebet sprachen, obwohl sie nie in die Kirche ging. Das Haus hatte noch keine Toilette, und in einer Nacht wachte ich auf und musste mich aus dem warmen Bettzeug stehlen, meine Holzschuhe anziehen und in die kalte Nacht hinaus zum Plumpsklo schleichen. Ich nahm den Hinterausgang. Als ich ihn schon fast wieder erreicht hatte, fiel mein Blick auf das Küchenfenster. Es war mitten in der Nacht, im Oktober, ich weiß nicht wie spät, vielleicht noch vor Mitternacht, vielleicht drei Uhr. Es brannte kein Licht in der Küche, aber der Mond war fast voll, und im blassen Licht meinte ich, das ausdruckslose Gesicht meiner Großmutter hinter der Fensterscheibe zu erkennen. Ich eilte ins Haus zurück. In jenem Alter war Weglaufen noch die beste Lösung; und sie wirkte, denn bis heute könnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es die Wahrheit ist oder ein Traum, der sich in meine Erinnerungen eingeschlichen hat.
Wahrscheinlich, dass es genau so passierte, ist es jedoch schon. Mein Großvater war zu alt gewesen, um in den Kriegsdienst eingezogen zu werden; er starb im Winter ’41 an einer Lungenentzündung. Der Krieg war nicht lange her, als wir
meine Großmutter das erste Mal besuchten. Geredet darüber, und über ihn, diesen Mann, der nicht mehr war für mich als ein ernstes Gesicht auf einem vergilbten Hochzeitsfoto, wurde nicht. Wir wohnten bei Hamburg, sie weiter nördlich, auf dem Land. Wir verbrachten viele Ferien dort, ich und mein Bruder, in dem kleinen, verwinkelten Haus mit den niedrigen Holzdecken. Es stand am Rand des Dorfes, gelbe Farbe verblichen und abgeblättert, und benötigte dringend ein neues Dach, das Stroh dunkel mit Flecken. Der Vorgarten war voller Blumen und hinten lagen die Beete: Kartoffeln, Erbsen, Rote Bete, Stachelbeeren, dazwischen kleine, aber knorrige Apfelbäume, auf die man gut klettern konnte. Und zur Seite hin der Hühnerstall mit seinem angebauten Auslauf. Ich weiß immer noch, wie sich die frischen, warmen Eier unter meiner kleinen Hand anfühlten, als ich sie morgens aus dem Stroh nahm. Meine Großmutter freute sich, uns zu Besuch zu haben. Sie war eine gute Köchin und legte viel Wert darauf, dass wir ihr bei den Aufgaben halfen, die täglich anfielen; dass wir das Gemüse schnitten, im Frühling sähten und im Herbst ernteten, Apfelmus kochten, Feuerholz stapelten. Sie konnte streng mit uns sein; wir liebten und respektierten sie gleichermaßen.
Ich kann nicht sagen, wann es mir das erste Mal aufgefallen war. Ich kann nicht sagen, wann ich begann, mir darüber Gedanken zu machen. Eines Morgens jedenfalls, ich war elf, stand ich dort mit einer Birne in der Hand, starrte auf die trüben Pfützen frühmorgendlichen Lichts, die sich auf den Backsteinfliesen sammelten. Die versteinerte Figur meiner Großmutter stand wie immer, eine Hand auf dem Fenstersims, die andere an ihrer Seite. Sie schien für mich kleiner geworden zu sein in den letzten Jahren. Und sie stand krummer; ihre Haare waren grauer. Ich nahm meinen Mut zusammen. “Oma. Wieso stehst du hier immer?” Ich war stolz darauf, wie sicher meine Stimme zu klingen schien. Sie bewegte sich ein kleines, beinahe unbemerkbares Stück. Mein Herz schlug schneller, als wäre diese Bewegung die letzte Bestätigung, die ich befürchtet oder erhofft hatte, dass sie kein Geist war, keine Einbildung. “Mein Kind,” sagte sie. Ihre Stimme klang älter als gewöhnlich, rau und müde, der Dialekt derjenigen, deren Muttersprache nicht Hochdeutsch war, ausgeprägter. Sie sprach kein Platt mit uns; niemand hatte es uns beigebracht, und sie selbst versuchte es nie. “Eines Tages würdest du fragen.” Sie schwieg für einen Moment. Ich starrte ihren Rücken an, die sehnigen Schultern. “Wir Frauen in dieser Familie haben zwei Leben. Ich kann spüren, dass das erste bald zu Ende geht. Deswegen steh‘ ich hier und warte. Denn sobald ich sterbe, kommen nachts die Hexen und holen mich ab, und dann werd‘ ich eine von ihnen.”
Ich runzelte die Stirn. Ich war in dem Alter, in der man an der Schwelle zu der unumkehrbaren Erkenntnis steht, dass Erwachsene und das, was sie sagen, keineswegs unfehlbar sind. Aber dies war meine Großmutter, und Märchen und andere Geschichten, in denen Hexen vorkamen, fand ich aufregend. “Wieso musst du dafür hier stehen? Wenn sie Hexen sind, können sie dich nicht einfach aufwecken?” “Damit sie mich noch leichter finden. Und weil ich nicht mehr schlafen kann. Und weil ich mich darauf freue.” Ich wollte fragen, ob ich eines Tages auch so am Fenster stehen würde, aber der Gedanke von mir als eine Frau so alt wie meine Großmutter, war so fern, so unglaublich, dass ich ihn nicht formulieren konnte. Ich wusste also nicht, was ich sagen sollte; ich nickte, obwohl sie es nicht sehen konnte, und ging. Schlich auf meinen nackten Füßen zurück in das Zimmer, in dem mein Bruder, jetzt acht, tief und fest schlief, Kopf fast unter der Wolldecke verschwunden.
Sie starb drei Jahre später. Wir waren nicht da und unsere Besuche waren weniger
geworden. Ich ging auf ein Mädchengymnasium am Hamburger Stadtrand und erfuhr es von meinem Vater, ihrem Sohn, der Beamter war und dessen Knieverletzung aus dem Ersten Weltkrieg ihn vor der Front des Zweiten geschützt hatte. Wenn er nach Hause kam, verschwand er in seinem Arbeitszimmer und rauchte dort reihenweise Zigarren. Der Geruch von kaltem Rauch, der über diesem dunklen Raum hing, erinnert mich mehr als alles andere an ihn. Er starb an einem Herzinfarkt, als ich achtzehn war. Nachdem er es mir in ein paar barschen, kurzen Sätzen mitgeteilt hatte, schloss er die Tür sanft hinter sich. Meine Mutter war einkaufen gegangen. Mein Bruder spielte Fußball im Park mit seinen Freunden.
Ich setzte mich auf mein Bett, in meinem Zimmer, und wusste, dass ich weinen sollte. Der einzige Gedanke aber, der mir kam, war das Bild von meiner Großmutter, wie sie eine Gruppe in dunkle Lumpen gekleideter alter Frauen vor ihrem Fenster auftauchen sah. Wie sie barfuß nach draußen trat, auf den knorrigen, selbstgeknüpften Besen stieg, der immer neben dem Kachelofen stand, und darauf in die Dunkelheit davonritt.
Ich weinte nie um sie. Die Erinnerungen an die Ferien in dem Haus, das mein Vater
verkaufte und das heute, renoviert und aufgeräumt, Fremden gehört, erschmierten wie Farben auf nasser Leinwand zu Gefühlen, Geräuschen, Sonne auf Haut, Holzsplitter in Handflächen, das Krähen des alten Hahnes am Morgen, der Geruch frisch geschälter Kartoffeln. Das Bild von meiner Großmutter, wie sie, im Nachthemd, auf dem Besen, als Schatten in der Nacht verschwindet, ist viel klarer in meiner Erinnerung. Fast klinisch, als hätte ich es irgendwann in einer Fernsehdokumentation gesehen. 1963 heirateten mein Mann und ich, ein paar Jahre später brachte ich meine Tochter zur Welt, unser einziges Kind. Sie ist Diplomatin, in Bolivien im Moment. Sie hat eine Frau aus Südafrika geheiratet; sie haben zwei Kinder, die sie zusammen adoptiert haben. Als sie vierzehn war, begann ich wieder zu arbeiten, nähte Gardinen und Tischdecken und Kissenbezüge. Wir fuhren Fahrrad, wir gingen wandern in Süddeutschland und Italien. Nachdem er, Büroangestellter in einem Schiffsbauunternehmen, in Rente ging, flogen wir
regelmäßig nach Fuerteventura. Wir waren im Kegelclub. Ich las sehr viel, er nur die Welt am Sonntag. Wir verstanden uns gut. Mein Mann erkrankte vor sechs Jahren an Demenz, starb vor zwei. Ich besuche sein Grab einmal in der Woche.
Ich stehe am Fenster der Kieler Wohnung, in der wir, dann ich alleine, die letzten
fünfunddreißig Jahre gelebt haben. Ich sehe in die Nacht hinaus. Der Arzt sagte mir, es sei noch operabel; ich weigerte mich. Ich spüre den Tumor in meinem Bauch wachsen, oder bilde mir das ein. Die Stadt schläft und der Himmel ist ungewöhnlich klar für September. Hinter dem Schleier des Stadtglühens kann ich die Sterne und die schmale Sichel des Mondes erkennen.
Ich bewege mich nicht. Ich spüre das Verlangen danach nicht. Genauso wenig
vermisse ich den Schlaf. Es war eine langsame Entwicklung und es begann ein paar
Monate vor dem Tod meines Mannes; je seltener ich einschlafen konnte, desto mehr stand ich hier. Ich habe einen Brief an meine Tochter geschrieben, der auf dem Küchentisch liegt, denn sie hat bei ihrem letzten Besuch, zur Beerdigung, nicht bemerkt, dass ich nachts nicht im Bett liege und schlafe. Sie muss wissen, dass wir uns wiedersehen werden. Ich weiß, dass sie kommen werden, so sicher, wie ich den kalten Windhauch aus dem angelehnten Fenster auf meiner Haut spüre. Ich weiß, dass meine Großmutter auf mich wartet, und ich weiß, dass mein eigenes Warten, auf eine Weise, die ich noch nicht verstehen kann, bald zu Ende ist.
April 2017, Copyright Pernille Leu
1. Platz Greta Weber
AUS IHRER WANGE, DAS LEBEN
I.
Das Erste, was sie bemerkte, war das stechende Gefühl in ihrer Wange. Durchs Mark fahrend, wie ein Dorn, der kräftig und plötzlich aus dem Mundraum ins Fleisch gestochen wurde. Sie zuckte zusammen. Fuhr mit der Zunge über die schmerzende Stelle in der Erwartung etwas zu spüren: einen Fremdkörper, vielleicht einen Krümel von dem Knäckebrot, das sie gegessen hatte? Eine raue oder wunde Stelle? Vielleicht hatte sie erwartet Blut zu schmecken, auf eine Erhebung zu treffen. Aber da war nichts. Zum Vergleich prüfte sie mit der Zungenspitze die andere Wange. Absolut gleich. Nichts zu spüren. Ein Phantomschmerz, aus dem Nichts auf- und dann gleich darauf wieder hineingetaucht. Seltsam, dachte sie bei sich. Vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet.
Dann stach es erneut zu. Ihre Augenlider zuckten, ihre Hände. Nervös strich die Zunge wieder und wieder über die Stelle, nur um nichts zu finden. Absolut nichts. Ungeduldig fuhr sie mit dem Zeigefinger in ihrem Mund herum, etwas zu spüren, eine Reaktion auszulösen, eine kleine Unebenheit, eine Stelle, an der es brannte, wenn man sie traf. Den Punkt zu treffen, der den Schmerz ausströmte. Irgendetwas.
Als es das dritte Mal zustach eilte sie zum Spiegel. Verdrehte ihren Kopf, zog mit den Fingern die Mundwinkel auseinander, um zu sehen, was in ihrem Mund vor sich ging. Um vielleicht eine weiße oder gerötete Stelle zu finden, oder – Gott, bewahre – eine schwarze? Etwas Sichtbares. Aber es war ebenso wenig zu sehen wie etwas zu fühlen war. Vielleicht, dachte sie, vielleicht, drehe ich durch.
II.
In der ersten Nacht schlief sie ungestört. Erst als der nächste Morgen dämmerte und sie die letzten stillen Minuten des Tages in ihrem Bett verbrachte, kam der Schmerz plötzlich und durchdringend zurück. Wieder zuckten ihre Lider. Wieder fuhr sie mit der Zunge durch den Mund. Wieder: nichts. Still und starr blieb sie liegen, die wirren Haare im Gesicht, mit trockenem Mund, zerwühlter Bettdecke. Noch ein Stich. Verletzend, es fühlte sich verletzend an – wo war das Blut? Wieso blutete der Schmerz nicht? Wieso stach sie so unverkennbar ein Stachel, tief ins Fleisch, dass der Schmerz durch ihren Kopf hallte, dass sie erzitterte, dass sie zuckte und die Wunde blieb aus, das Blut blieb aus?
Mit dem nächsten Stich sprang sie aus dem Bett, hinüber zum Spiegel, sie stürzte fast über das, was fälschlicherweise auf dem Boden lag, rettete sich mit einem Griff nach der Klinke. Aus dem Spiegel blickte ihr das eigene verschlafene Gesicht geziert mit Augenringen und Kissenabdruck entgegen. Sie strich die wirren Strähnen zur Seite, riss den Mund auf. Das helle Morgenlicht fiel in einem günstigen Winkel. Sie wiegte den Kopf hin und her, kam näher, bis ihre Stirn auf dem kalten Glas lag, wich
wieder zurück, nicht sicher, ob sie ihren Augen trauen wollte, in denen noch der Schlaf hing. Sie blinzelte, nichts tat sich. Sie blinzelte erneut. In ihrer Wange schimmerte es grün. Sanft nur, nicht auffällig oder eindrücklich. Ein erste-Knospen-im-Frühling-grün, zurückhaltend, aber eindeutig da. Nur zur Sicherheit blinzelte sie noch ein drittes Mal, diesmal fester. Dann schloss sie den Mund, sah in ihre eigenen erstaunten Augen, stellte das Wasser an – kalt – und warf sich eine Handvoll ins Gesicht, rubbelte es mit dem Handtuch wieder fort, machte den Mund wieder auf. Ohne Zweifel, immer noch ein grüner Schimmer. Nichts mit Zunge oder Fingern zu ertasten, noch immer kein Blut, kein Geschmack. Nur das Grün.
Sie trank sieben Gläser Mineralwasser, aber es blieb. Sie aß Frühstück und putzte sich die Zähne. Immer noch grün. Zur Sicherheit: antiseptisches Mundwasser. Für den Notfall. Falls ich schimmle, dachte sie.
Als es wieder stach, zuckte sie nicht mehr. Still spürte sie dem Schmerz nach, wie er sich aus ihrer Wange durch den Mundraum zum Kiefer und hindurch in ihre Nase, dann die Stirn wandte. Wie er sich netzartig um ihren ganzen Kopf legte und sich dann – zack – wieder auflöste. So ruckartig wie er gekommen war.
Sie hatte es erwartet. Sich auf den Tisch einen Spiegel gestellt, um alle paar Minuten nach dem Grün zu sehen. Es verschwand nicht, aber es schien auch sonst nichts zu tun. Sich nicht auszubreiten, sich nicht zu vertiefen, nicht zu verfärben. Zumindest, dachte sie. Und fuhr mit der Zunge über den Fleck.
Die Stiche blieben. Unregelmäßig, aber beständig. Immer, wenn sie es nicht erwartete, wenn sie es kurz vergessen hatte. Wie um sie immer wieder zu erinnern. Sie auf Trab zu halten. Sie sah ihr Abbild in dem Spiegel. Gehetzt. Nervös. Dass in dieser Nacht ihre Träume grün gefärbt schienen, die Welt hinter ihren geschlossenen Augen grüner wirkte, fiel ihr kaum auf.
III.
Am nächsten Morgen stand sie früh vor dem Spiegel. Sie brauchte den Mund nicht zu öffnen, um zu sehen, was die Nacht ihr gebracht hatte. Es war wieder sanft, aber ganz eindeutig. Auf ihrer blassen Haut hatte sich ein grüner Schimmer ausgebreitet. Zwischen Grübchen und Kieferknochen. Prüfend drückte sie von außen wie innen ihre Zeigefinger auf die Stellen. Direkt übereinander. Als wäre die Farbe durch das Fleisch gewichen, um obere Gewebeschichten zu erreichen. Vielleicht sucht es Luft und Licht, dachte sie und wusste nicht, ob sie beunruhigt war oder irritiert. Sie schaltete das Licht an und aus, drehte sich vor dem Spiegel umher. Grün blieb grün. Stach heraus aus ihrem farblosen Gesicht. Zwischen blassen Lippen, hellen Augen, aschfarbenem Haar. Vorsichtig strich sie mit den Fingerkuppen darüber. Die Haut fühlte sich hier nicht anders an als auf der anderen Wange, der Stirn, am Kinn, im Dekolleté. Ein wenig rau, trocken. Sie wusch sich das Gesicht, sie machte sich fertig. Der grüne Fleck blieb ihr im Gesicht wie ein treuer Begleiter stehen.
Wie man sich an alles gewöhnt, so gewöhnte sie sich auch an den kurzen Schmerz. Noch immer huschte ihre Zunge reflexartig über die Stelle im Mundinnenraum, war beruhigt, wenn sie nichts schmeckte, nichts fühlte, jedes Mal wenn der gestaltlose Stachel ihr Fleisch schnitt. Aber sie zuckte nicht mehr. Sie seufzte nur leise, wenn das Beben des Stiches durch ihren Kopf wallte.
IV.
Am vierten Morgen erwachte sie mit einem merkwürdigen Gefühl in der Wange. Als hätte jemand etwas darauf abgelegt, einen kleinen Stein vielleicht. Kühl und hart. Sie riss die Augen auf. Ohne nachzufühlen – sie traute sich nicht – sprang sie auf und hinüber zum Spiegel. Immer noch lag der sanfte grüne Schleier auf ihrer Wange, aber nun hatte er sich zu einem Hügel hinaufgehoben, die Haut war aufgebrochen, und während sie ihrem Spiegelbild näher kam konnte sie langsam erkennen, dass eine dunkelgrüne Spitze herausragte. Kaum einige Millimeter lang, kaum einen Millimeter im Durchmesser. Winzig klein. Eine grüne Spitze, wie ein Dorn. Vorsichtig bewegte sie ihre Zunge über ihren Gaumen durch den Mund bis in die Wange. Sie ertastete nichts. Sie öffnete den Mund um nachzusehen. Es war nichts zu erkennen. Nur aus ihrer Wange war es herausgebrochen.
Lange besah sie reglos ihr Gesicht im Spiegel. Es stach nicht mehr. Ein gutes Zeichen, dachte sie. Ein gutes Zeichen. Ihre Finger näherten sich der Bruchstelle, aber sie zuckte zurück. Den ganzen Tag lang vermied sie jede Berührung. Kein Fingerstreichen; kein Haar sollte darankommen. Erst am Abend, als ihre müden Augen sich wieder im Spiegel fanden, kam vorsichtig das Wasser. War der Dorn gewachsen?
V.
Jeden Morgen besah sie nun behutsam, wie der Dorn immer weiter aus ihrer Wange kam, sich seinen Weg zum Licht suchte, wie Pflanzen die Sonne nun einmal suchten, um zu wachsen. Und dem Dorn folgte nach einigen Tagen ein dünner, grüner Stängel, aus dem dann wiederum mehr Dornen entsprangen, während er sich langsam, vorsichtig, aus ihrem Gesicht wand, erst vorwärts tastend, dann sich hochbeugend, gen Zimmerdecke, gen Himmel. Mit Staunen besah sie, was aus ihrem Gesicht kam. Nach allen Spiegeln wandte sie ihren Blick, Aschehaare, Augentrübe missachtend. Aus ihrer Wange entsprang neue Farbe. Wie ein grüner Schleier lag sie um ihr Gesicht. Wie eine freudig grüne Stimmung.
Er wuchs, Woche um Woche, Zentimeter um Zentimeter. Schließlich hatte er sich halb nach hinten um ihren Kopf gewunden, in weiser Voraussicht schien es, ihr die Sicht nicht zu versperren. Nachts ziepte es in ihrer Wange, manchmal hörte sie es leise knistern. Sie band ihr Haar zurück, dass es sich nicht in den spitzen Dornen verfing. Sie goss die Pflanze mit dem Wasser, mit dem sie sich wusch. Sie bestaunte das zarte Leben, das sich um sie herum ausbreitete.
VI.
Die Knospe entdeckte sie zufällig in einem Schaufenster, in dem sie sich im Vorbeigehen spiegelte. Zwischen zwei Schaufensterpuppen erschien sie, lachend, der Stängel froh wippend um ihren Kopf gewunden, schickte er sich langsam an über sie hinaus zu wachsen. Vorsichtig betastete sie die kleine grüne Kugel. Ja, hier kam ihre erste Blüte. Um sie herum tobte der warme Frühling mit all seinen Blumen und Vögeln. Sie würde sie wie eine Krone krönen, die natürliche Insignie einer Königin. Einer Königin ihres Lebens und des Sommers, der mit erhobener Hand vor der Tür stand, bereit dagegen zu klopfen und in die Welt zu marschieren, wo er sehnsüchtig erwartet wurde.
An diesem Abend goss und wusch sie ihre Blume ein wenig länger, während ihr Blick im Spiegel hängen blieb, den Kranz von ihrer Wange, wo er aus seinem sanften, grasgrünen Fleck entsprang, um ihr im Abendlicht glühendes Haar herum, einen Schlenker nach rechts dann nach links machend, hinter ihrem Kopf aus ihrem Blick entschwindend und dann über ihn hinausspringend, verfolgte.
VII.
Die Wochen vergingen, die Tage zogen ins Land, die Knospe wurde ihr stummer Freund und als draußen die Sonne endlich so warm aufging, dass die Vögel in Liebeslieder ausbrachen und die Blumen ihre Häupter schutzsuchend gen Schatten neigten, aus dem Himmel zur Erde der Duft nach Freiheit sprühte, da brach aus der Knospe an dem Stängel die Blüte einer Rose hervor und leuchtete und glühte im frühen Licht.
Sie trat vor ihren Spiegel und besah sich lächelnd und ihr Lächeln hob die rote Blume hoch hinaus in die freie Luft, wo ihr weder die Sorgen noch die Trauer der Erde im
Sie goss die Blume, sie trat vor ihre Haustür und die Welt lächelte ihr zu, sie strahlte ihr entgegen. Und die Rosenblüte schwebte über ihrem Stängel, über ihrem Haar, ihrem Kopf dahin und grüßte zurück.
Der Sommer, dachte sie, das ist der Sommer.
April 2017, Copyright Greta Weber