Jelis Hoedtke: Der magische Schnuller
Als Kind war der Schnuller schon immer mein liebstes Spielzeug gewesen. Wenn meine Familie am Esstisch mal wieder zwischen Schweigen und Gebrüll wechselte, so machte mein Schnulli doch das gleiche rhythmische, beruhigende und schmatzende Geräusch, wenn ich daran saugte. Und wenn meine Eltern, dabei sich anzuschreien, vergaßen, mich am Abend ins Bett zu bringen, so fühlte sich, wenn ich meine Augen schloss, der Schnulli wie ein Gutenachtkuss auf meinem Mund an. Und wenn ich meinen kleinen Finger durch das kleine Loch seines Griffs zwängte, so bildete ich mir ein, zu fühlen, wie sie meinen Finger festhielten.
Als meine Finger größer wurden, passten sie nicht mehr so gut durch das Loch, aber dafür konnte ich mit meinen großen kräftigen Zähnen auf dem Gummiteil herumkauen und mir vorstellen, ich hätte mir wie die anderen Kinder Kaugummi am Kiosk kaufen können.
Mein Schnulli und ich hätten ewig glücklich miteinander leben können, wären nicht andere auf einmal auf die Idee gekommen, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich das Ding loswerden müsse. Es war, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen. Der Zahnarzt sagte, dass der Schuller Fehlstellun-gen von meinen Zähnen verursachen würde. Meine Vorschullehrerin teilte, meinen Eltern am Eltern-sprechtag, nachdem sie einen Blick auf mich mit meinem Lieblingsspielzeug erhalten hatte, ihre Be-sorgnis über mein Ansehen unter anderen Kindern mit.
Schließlich beschlossen meine Eltern, dass er wegmusste. Nicht, dass es ihnen selbst vorher störend aufgefallen wäre. Nicht, dass es sie gestört hätte, hätte ich schiefe Zähne oder keine Freunde gehabt. Denn das war ja sowieso der Fall. Auch ohne Schnuller war ich nicht gut mit anderen Kindern und die schiefen Zähne hatte ich wohl oder übel geerbt und da würde sich auch nichts daran ändern, da meine Eltern kein Geld für eine Zahnspange für mich ausgeben wollten.
Aber was sollten die anderen Leute denn denken? Was sollte die Familie denken? Der Schnuller musste weg! Aber diese Schlacht konnte und wollte ich nicht kampflos aufgeben. Ich behielt meinen Schnulli im Mund, wann immer es ging und wenn nicht, versteckte ich ihn, damit ihn mir keiner würde wegneh-men können.
Das Schlimmste war, wenn Oma und Opa und die Tanten und Onkel zu Besuch kamen. Sie würden sich darüber echauffieren, dass ich immer noch mit so einem Nuckel im Mund herumlaufe und mein Vater würde unglaublich wütend werden. Denn mit seinen zahlreichen Geschwistern stand er seit Kindheits-tagen im Wettbewerb. Während ich das einzige Kind meiner Eltern war, musste ich mit unzähligen Cousinen und Cousins mithalten. Ich war ihr Wunder – wie sie vor anderen immer zu sagen pflegten. Doch in Wahrheit war ich ihr Unfall, der sie zum Heiraten gezwungen hatte. Da mein Vater schon nicht das meiste Geld unter seinen Geschwistern verdiente, weil er seine Ausbildung ja meinetwegen frühzei-tig hatte abbrechen müssen, sollte doch wenigstens seine Familie sein Aushängeschild sein.
Meine Mutter sollte jung und hübsch aussehen und ich sollte doch wenigstens der Beste in Mathe oder der Schnellste im Laufen sein. Deswegen mochten meine Cousinen und Cousins und ich uns auch nicht sonderlich. Wir wurden immer gezwungen, besser als der oder die andere zu sein.
Es war schließlich meine Tante Selma, die auf die Idee kam, mir zu erzählen, sie könne mich mit meinem Schnulli im Mund nicht mehr sehen. Es war, als wir wieder zum Tee bei ihr und Onkel Fritz zu Besuch waren.
Meine Mutter hatte mir widerwillig über die Haare gekämmt und mir mein Sonntagshemd angezogen, damit ich gut für die Familie aussah und Tante Selma annehmen könnte, wir hätten genug Geld, dass ich jeden Tag so ein Hemd anziehen könnte. Ich war traurig darüber, denn das bedeutete, dass ich weder mit den anderen Kindern im Sand spielen noch mit dem Schokoladeneis kleckern können würde, wollte ich nicht „ordentlich etwas erleben“. Meine Mutter selbst hatte sich ihr schickes Blümchenkleid ange-zogen, das gerade eben lang genug war, dass man es noch für anständig hielt und ihre Haare hochge-steckt, wie sie es in jungen Jahren immer gemacht hatte.
Es gab Pfirsichkompott und ich bat Tante Selma um Nachschub, während sich die Erwachsenen über Politik stritten. Ich hatte eine Taktik entwickelt und perfektioniert, wie ich mit Schnulli im Mund essen konnte. Ich schob ihn soweit es ging in den linken Mundwinkel und drückte ihn in meine Backentasche, während der Rest meines Mundes vom Löffel eingenommen wurde. Nach jedem Löffel saugte ich meine Wangentasche ab, um Sabbern zu verhindern. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mir später beim Spielen und Kauen auf meinem Schnulli einbilden, mein Kaugummi hätte Pfirsichgeschmack.
„Es tut mir leid, mit diesem Ding in deinem Mund verstehe ich leider nicht, was du möchtest.“, sagte Tante Selma extra langsam und deutlich mit gespieltem Mitleid. Ich wusste, dass sie log, denn ich konnte mich prima artikulieren und auch heute raten sie jedem Schauspieler, sich einen Korken in den Mund zu schieben, um die Aussprache zu verbessern. Trotzig zeigte ich auf die große Glasschale mit Kompott. „Weißt du, Schätzchen,“, sagte Tante Selma nun extra laut, um die ganze Aufmerksamkeit des Tisches auf sich zu ziehen, „Ich kann dich mit dem Ding in dem Mund noch nicht einmal sehen.“ Ein Raunen zwischen Anerkennung für Tante Selmas Idee und Belustigung ging durch die Runde. Vorsichtig tippte ich an die Schulter meiner Mutter, die rechts von mir saß und flüsterte: „Mama, kannst du mich sehen?“
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie zu sehr von Onkel Fritz abgelenkt war oder daran, dass Tante Selma nun jeden am Tisch dazu gezwungen hatte, bei ihrem Spielchen mitzumachen, aber sie entgegnete nur: „Jetzt nicht.“. Vorsichtig, testweise manövrierte ich meinen Schnulli aus meinem Mund. „Da bist du ja!“, rief Tante Selma und grinste triumphierend in die Runde. Doch ihr Triumph galt nur kurz, denn sie hatte mir gerade die größte Fantasie eines jeden Kindes erfüllt.
Mein Spielzeug war magisch. Mein Schnulli war magisch und ich konnte mich damit unsichtbar ma-chen, wann immer ich wollte. Es war doch egal, wenn der Schnuller mir schiefe Zähne verursachte.
Wenn ich ihn trug, würde mich doch sowieso keiner sehen können. Ich müsste nirgendwo mehr der Schnellste oder der Beste sein. Ich müsste gar nichts sein, wenn ich gar nicht richtig da war.
Wann immer Onkel Fritz mit meinem Vater über Geldanalage stritt und mein Großvater sich darüber beschwerte, die beiden müssten ihm etwas für seine Rente dazugeben, konnte ich einfach verschwinden und in meine eigene Welt abtauchen. Wann immer mein Vater mit mir darüber schimpfen würde, dass ich noch nicht lesen konnte oder meine Mutter sich über meine knittrigen Hosen beschwerte, konnte ich einfach unsichtbar werden. Die wenigen Male, wenn Papa mir hingegen das Fußballspiel würde erklären wollen oder Mama mich zu Fuß von der Schule abholen, mich umarmen und mit mir durch den Park zurückschlendern würde, könnte ich da sein.
Alles wäre perfekt für mich gewesen, wäre mein Schnuller nicht eines Tages kaputt gegangen. Hätte er nicht irgendwie irgendwann eine Delle bekommen, die seine Magie entweichen ließ.
Es war wieder ein Essen bei Tante Selma und Onkel Fritz. Ich lief um den Tisch herum und spielte Räuber, der auf einem Pferd mit seiner Beute entkommt. Niemand beachtete mich, denn ich hatte ja meinen Schnulli im Mund. Normalerweise hätte ich bestimmt nicht so laut sein dürfen und nicht so viel Staub aufwedeln dürfen, aber ich war ja unsichtbar. Normalerweise wäre ich gelangweilt und traurig gewesen, dass niemand mir Aufmerksamkeit schenkt, sondern lieber Tante Annemaries Vortrag über Kindererziehung diskutiert, aber ich war ja in einer anderen Welt.
Und in dieser anderen Welt fiel mir auch nicht auf, dass meine Mutter vom Esstisch verschwunden war und auch Onkel Fritz nicht mehr da war. Stattdessen entschied ich, dass ich jetzt weit genug weg von dem Museum war, aus dem ich die Diamanten geklaut hatte, so dass mich die Polizei nicht mehr einho-len konnte und mein Pferd eine Trink- und ich eine Pipi-Pause verdient hatten. Ich ritt zum Badezimmer und schwang die Tür mit voller Kraft auf.
Sie krachte gegen den Kopf meiner Mutter, deren Kleid nicht mehr auf angemessener Länge hing und deren Zunge mit der Zunge vom oberkörperfreien Onkel Fritz verhakt war. Meine Mutter schrie und ich hörte wie sich Schritte aus dem Wohnzimmer anbahnten, aufgeschreckt von dem Lärm. Ich nuckelte so fest an meinem Schnulli wie ich konnte und betete, dass sein Unsichtbarkeitszauber stark genug für alle wäre oder dass er sogar die Zeit zurückdrehen könnte. Aber statt in einer anderen Welt zu landen, sah ich, wie mein Vater Onkel Fritz ins Gesicht schlug, meine Mutter mit einem „Dumme Schlampe“ be-dachte und aus dem Haus rannte. Tante Selma fing an zu schluchzen wie ein Schlosshund und flüchtete – getröstet von Tante Annemarie und Onkel Walter – ins Wohnzimmer. Ich konnte nicht anders als wie versteinert stehen zu bleiben. Ich spürte wie sich eine warme Pfütze unter mir bildete, da ich immer noch nicht auf die Toilette hatte gehen können. Und jeder konnte sie sehen, obwohl sie hätte unsichtbar sein sollen. „Dummer Junge. Alles deine Schuld.“, zischte Onkel Fritz und eilte an mir vorbei hinter Tante Selma her, nachdem er mir einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hatte. Er hatte mich sehen, mein Schienbein finden und treten können, obwohl ich hätte unsichtbar sein müssen. Meine Mutter
lehnte an der Wand – benommen von der Tür, die gegen ihren Kopf gefallen war und von den Ereignis-sen. Sie sah mich mit erschöpften Augen an. Ich spürte, dass sie mich sah, meine Augen sah, obwohl ich hätte unsichtbar sein sollen. Sie schüttelte den Kopf. Danach sah sie mich nie wieder so an, sah mir nie wieder so in die Augen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich spülte meinen kaputten Schnuller die Toilette hinunter. Ich wollte meine Mutter umarmen, doch sie war steif und drückte mich weg. Mein Schnuller war nicht magisch und es würde auch kein anderer mehr sein. Mein Schnuller hatte mich in dem Moment, in dem ich einfach nur unsichtbar sein wollte, nicht unsichtbar gemacht, aber dafür für den Rest meines Lebens mit einem Unsichtbarkeitszauber am Familientisch verflucht.