5. Junger Literaturpreis – 2. Platzierung

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Jana Nabea Schwarz: Elio und Mathilda

Wir kennen sie alle, die großen Liebesgeschichten. Die einem schon beim Lesen ein Lächeln auf dasGesicht zaubern oder die, bei denen man weinen muss, wenn sie enden. Viele wünschen sich so eine wunderbare Geschichte. Wir suchen nach diesem Glück, nach jemandem mit dem wir unser ganzes Leben teilen wollen oder auch nur einige Momente. Vielleicht ist es jemand, den du eines Tages auf der Straße triffst oder auf der Hochzeit eines Bekannten, vielleicht seid ihr aber auch schon vorher Freunde, wisst alles übereinander und habt doch gar nicht bemerkt, wie eure Freundschaft sich
verändert hat. Die Geschichte von Elio und Mathilda beginnt genau auf diese Weise. Mit einer Liebe, entstanden aus Freundschaft, die über lange Zeit hinweg der wichtigste Teil ihrer Leben war und die, nur ganz vielleicht, irgendwann das Hollywood-Ende bekommt, dass sie verdient. Als ein bunt bemalter VW-Bus über den Marktplatz tuckerte, wusste Mathilda noch nicht, dass dieser Tag ihr Leben verändern sollte. Mit zehn Jahren denkt man nicht so viel über die Zukunft nach, man träumt vielleicht von einem Beruf, einem Ort oder hat einen großen Wunsch. Aber mit zehn Jahren denkst du nicht morgens beim Frühstück darüber nach, jemanden zu treffen, der dein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Du denkst an deine Freunde, mit denen du am Brunnen zum Spielen verabredet bist und an das Grillen der Feuerwehr am nächsten Wochenende. Und Mathilda tat genau das. Sie dachte an die Scheune ihrer Freundin Klara und den See und dass der Sommer nicht enden würde. Denn wenn du zehn Jahre alt bist, dann geht der Sommer ewig und riecht nach Heu, Seewasser und Bratwürstchen. Und als ein paar Minuten später derselbe Wagen knatternd an der Bushaltestelle vor dem Nachbarhaus zum Stehen kam, ahnte sie nicht im geringsten, dass diese endlosen Sommer in einigen Jahren nur noch als Geschichten existieren würden.
Aus dem Bus kletterte ein Junge, vielleicht ein halben Kopf größer als sie, und trat laut fluchend gegen das Abgasrohr. Der Bus spuckte eine grauschwarze Rauchwolke aus und der Junge fluchte noch ein bisschen mehr. Interessiert beobachtete Mathilda, die neben ihren Eltern und ihrem großen Bruder Tjorven auf dem Gehweg stand, wie ein großer, bärtiger Mann den Motor abstellte und zu dem Jungen trat. Freundlich stellte er sich und seinen Sohn vor. Der Blick des Jungen traf kurz Mathildas, dann drehte er sich um und begann im Kofferraum zu kramen. Er hielt einen Haufen groben Stoffs und Seile hoch: „Und wo soll ich meine Hängematte aufhängen?“ Am gleichen Abend lernte Mathilda beim Grillen, das ihr neuer Nachbar Elio hieß. Elio hatte seine Hängematte zwischen den beiden großen Apfelbäumen in seinem Garten aufgespannt und das Fenster gegenüber von Mathilda bezogen. Nachdem die Erwachsenen sie in ihre jeweiligen Betten schickten, standen sie beide an ihren Fenstern, die Arme auf der Fensterbank aufgestützt und Elio erzählte ihr die Geschichte der mutigen Sternenprinzessin und des unbesiegbaren Drachenfürsten. Er konnte tolle Geschichten erzählen und so bauten
sie eine eigene kleine Welt, bis Mathildas Mutter ihre Tochter weit nach Mitternacht kopfschüttelnd ins Bett steckte. Im Morgengrauen stand Elio dann vor ihrer Haustür und sie nahm ihn mit zum Schwimmen an den See von Klaras Onkel. Die Tage wurden immer länger und wieder kürzer. Am letzten Ferientag schlichen sie sich abends raus und Mathilda zeigte ihm, wie man auf das Flachdach der Bushaltestelle vor seinem Haus klettern konnte. Kichernd saßen sie bis zum Morgengrauen auf dem Dach, ließen die Beine baumeln und träumten von der weiten Welt. Elio wollte überall mal hin, auf die tropischen Inseln und zum großen Eis. Früher waren sein Vater und er von Ort zu Ort gezogen, mal ein Jahr hier, mal ein paar Monate dort. Nun würden sie bleiben. Für immer an einem Ort zu bleiben, erschien ihm unendlich langweilig, wenn es doch so viel zu sehen gab. Mathilda wollte nie für immer weg, denn die blühenden Wiesen und die Gemeinschaft des Dorfes waren eigentlich alles, was sie zum glücklich sein brauchte. Das, und vielleicht einen besten Freund wie Elio.
Der nächste Sommer wurde fast genauso endlos wie der zuvor. Ein Jahr war vergangen und für Mathilda und Elio war es ein Jahr voller Glück, Spaß und Leichtigkeit gewesen. Denn obwohl Elio immer noch Probleme mit dem Hierbleiben hatte, so gab es doch niemand besseren als Mathilda, die ihm zeigte, dass man auch Abenteuer erleben kann ohne durch die Welt zu fahren. Das Dach der Bushaltestelle war zu ihrem Treffpunkt geworden. Solange es warm genug war, saßen sie am Wochenende oft stundenlang dort oben. Manchmal redeten sie gar nicht mehr, sondern saßen nur da während Elio summte und Mathilda aus den Blumen der Wiese unter ihnen Kränze flocht. In diesem Jahr gab es weniger Grillfeste und mehr Tage an Klaras See und dann zog auch noch Klaras Cousin Viktor ins Dorf. Am letzten Ferientag spielten Elio und er mit einigen anderen Jungs Fußball über den ganzen Marktplatz und schossen dabei die Uhr vor dem Rathaus kaputt. Es war dieser Abend, der Mathilda klarmachte, dass sich irgendwann alles ändern würde, denn Elio ließ sie alleine auf dem Dach sitzen und fuhr stattdessen mit Viktor und den Jungen aus Tjorvens Jahrgang zum See. Es war das Ende eines Anfanges.
Im Winter starb Mathildas Großmutter und eine Woche später brach Tjorven im Eis auf dem See ein. An beiden Abenden stand Elio unangekündigt vor ihrer Haustür und sie kletterten auf ihre Bushaltestelle. Da unter den Sternen sitzend, erzählte er ihr wieder eine Geschichte über die Sternenprinzessin und wie ihre Tränen sich zu funkelndem Sternenstaub verwandelten. Es war das erste Mal, dass sie vom Dach aus den Sonnenaufgang sah.
Im Juni danach lehrte sie Elio Blumenkränze zu flechten und er zeigte ihr, wie man Pfannkuchen macht. Mathildas Großvater kam zu Besuch und ihre ganze Familie saß abends mit Elio und seinem Vater in ihrem Garten und grillte. Seit dem Tag, an dem Elio nebenan einzog, waren nun genau zwei Jahre vergangen und Mathilda hätte nicht glücklicher sein können. Egal wie hart der letzte Winter gewesen war, vor ihr lag ein gefühlt endloser Sommer mit ihrer Familie und ihrem besten Freund.
Im Jahr darauf, bevor Mathilda in die achte Klasse kam, wurde ihre kleine Welt ein kleines bisschen größer. Anstelle am ersten Ferientag an den See zu fahren wie in den letzten drei Jahren, standen sie und Elio am Hamburger Flughafen und hörten sich die letzten Ermahnungen und Sorgen von Mathildas Mutter an. Anrufen sollten sie und auch Postkarten schicken. Mathilda hörte ihr schon gar nicht mehr richtig zu, fasziniert betrachtete sie die großen Flugzeuge unten auf dem Rollfeld und die vielen Menschen um sich herum. Im Hintergrund hörte sie Elio ihren Eltern versprechen, dass er auf sie aufpassen würde. Dann ging alles ganz schnell und sie saßen im Flugzeug. Nervös rutschte sie auf ihrem Platz herum während Elio neben ihr sich mit der Stewardess unterhielt. Die Reise war eine Geschenkt von Elios Mutter gewesen, die Elio für zwei Wochen nach Griechenland in ihr neues Haus einlud. Elio hatte darauf bestanden, dass Mathilda mitfahren durfte, was sie sehr gefreut hatte, vor allem weil er in letzter Zeit immer mehr mit den Jungen aus seiner Klasse machte. Er kam, obwohl er nur wenige Wochen älter war, nach dem Sommer schon in die neunte Klasse und oft hatten sie unter der Woche nur wenig Zeit füreinander. Manchmal hatte sie Angst, dass ihre Freundschaft zu sehr darunter litt, doch jetzt, als das Flugzeug endlich abhob und Elio ihre zitternde Hand nahm, war alles genauso, wie es sein sollte. Während der beiden Wochen auf der kleinen griechischen Mittelmeerinsel lernte Mathilda eine neue Seite an Elio kennen. Er hatte seine Mutter jahrelang nicht gesehen und sie stritten sich in den ersten
Tagen viel. Jedes Mal hockte Mathilda dann mit ihm auf der Mauer vor dem Haus und starrte die Sterne an, die hier so anders zu sein schienen als zuhause. In der zweiten Woche wurde es besser und am letzten Abend sah Mathilda Elio das erste Mal weinen, weil er nicht wusste, ob er nach Hause fliegen oder hierbleiben wollte. Bis zum Morgengrauen saßen sie draußen in der milden Nachtluft und Mathilda verstand, dass auch der Drachenfürst nicht so unbesiegbar war, wie er immer schien. Der restliche Sommer bestand aus Rekordtemperaturen und Wasserschlachten während es durchgehend nach Grillfleisch und Staub roch. Kurz vor Ferienende erzählte Klara Mathilda kichernd, dass sie sich zum ersten Mal verliebt hätte und Mathilda verstand nicht, warum es sie irgendwie störte, dass es ausgerechnet Elio war, den Klara mochte. Am letzten Ferientag saßen sie und Elio endlich mal wieder auf ihrem Dach und Mathilda erzählte Elio, dass Klara ihn mochte. Dieser sah sie erstaunt an und zuckte dann mit den Schultern. Viel zu früh wurde dunkel und als sie vor Mathildas Haustür standen, zog Elio ein geflochtenes blaues Armband wie sein eigenes aus seiner Hosentasche. Er band es ihr um und hielt seinen Arm daneben. Stumm lächelten sie sich an und Mathilda wusste, dass sie dieses Armband nie freiwillig abnehmen würde.
Im nächsten Sommer flog Elio wieder nach Griechenland, dieses Mal ohne Mathilda, die stattdessen mit Klara an die Ostsee fuhr. Über die Hälfte des Sommers verbrachten sie getrennt, so lange wie noch nie. Danach konnte Mathilda die komplette Ecke über ihrem Schreibtisch mit Postkarten tapezieren. Sie kam eine Woche eher zurück als er und fuhr mit ihren Eltern in eine große Kunstaustellung. Begeistert begann sie die Landschaft ihres Dorfes zu zeichnen und als Elio mit dem Bus aus Hamburg ankam, saß sie auf dem Dach der Bushaltestelle und bemalte Blumen, die sie auf eine Leinwand kleben wollte. Als sie ihm um den Hals fiel, bekamen sowohl er, als auch sein halbes Gepäck ordentlich Farbe ab. Die letzte Ferienwoche verbrachten sie größtenteils in Elios Garten, er in seiner Hängematte und sie auf dem Boden, umrundet von Farbtöpfen. Ihre langen welligen Haare fielen ihr immer wieder ins Gesicht und wenn sie dann hochschaute, lag Elio da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Abends, wenn die Wolken am Horizont begannen sich rosarot zu färben, liefen sie quer über die Felder und Wiesen bis zur Sandkuhle und hockten sich ans Lagerfeuer. Jeden Abend waren die Leute aus dem Dorf da, einige grillten und meistens brachte irgendwer eine Gitarre oder ein Akkordeon mit. Genauso war es auch am letzten Ferienabend. Mathilda erfuhr es erst Jahre später von ihrem Bruder, aber an diesem Abend schaute Elio sie so an, als wäre sie wirklich die Sternenprinzessin.
Ein Jahr später, am letzten freien Tag vor der zehnten Klasse saß Mathilda nicht auf dem Haltestellendach. Die Sommerferien endeten in diesem Jahr erst im September und Mathilda würde in wenigen Wochen sechzehn werden. Sie lehnte sich aus ihrem Fenster und versuchte im Halbdunkeln die Gestalt auf dem Dach auszumachen, die schon seit Stunden dort saß. Es war Elio und er wartete auf sie. Das Jahr war schnell vergangen, in einem Wirbel aus Geschichten, improvisierten Abendessen in Mathildas Küche und einem Frühling voller warmer Nächte auf dem Dach. Die beiden waren unzertrennlicher denn je. Elios Mutter war zu ihm und seinem Vater gezogen, zunächst über Weihnachten und dann komplett. Diese große Umstellung war ein Grund mehr dafür, dass er viel Zeit bei Mathildas Familie verbrachte. Doch der Sommer hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Es war auch Tjorvens letztes Schuljahr gewesen und auf seiner Abschlussfeier hatte er Elio zu seinem Favoriten als zukünftigen Kapitän der Schulmannschaft ernannt. Während Mathilda also mit dem nahenden Abschied von ihrem Bruder kämpfte, trainierte Elio wie ein Besessener um Kapitän zu werden. Es war das erste Mal, dass er nicht sofort bemerkte, dass es Mathilda schlecht ging. Mathilda verbrachte ihre Zeit daher oft mit ihren anderen Freunden am See und lernte dabei einen Jungen aus dem Nachbardorf kennen. Als sie eines Abends mit Elio auf dem Dach saß, erzählte sie ihm von Jasper und den gemeinsamen Nachmittagen am See. Elio schwieg und verabschiedete sich kurz darauf. Drei Tage später hatte er aus heiterem Himmel verkündet, dass er mit einem Mädchen aus seiner Klasse zusammen sei. Erstaunt hatte sie ihn angestarrt. Elio hatte so gleichgültig geklungen, wie als würde er über das Wetter reden. Mathilda hatte erlebt, wie ihr Bruder das erste Mal von seinem Freund erzählte und es hatte vollkommen anders geklungen. Nicht wie etwas, was man mal nebenbei erwähnt, sondern wie etwas Besonderes. Mathilda hatte stumm gelächelt und nach dem Mädchen gefragt. Während Elio sie kurz beschrieb und dann ohne Mathildas Reaktion abzuwarten das Thema wechselte, versuchte sie das Ziehen in ihrer Magengrube zu ignorieren. Danach hatten sie immer
weniger Zeit zusammen verbracht.
Durch den Sommer hindurch hatte Elio mehrere Freundinnen gehabt, alle ein Jahr älter als sie und aus anderen Dörfern. Jedes Mal, wenn sie ihn mit einem dieser Mädchen sah, versetzte es ihr einen Stich. Wieder war es Jasper, der ihre Traurigkeit an einem Nachmittag am See bemerkte und kurz vor Ende des Sommers waren sie dann zusammen gekommen. Mathilda vermied es, mit Elio über seine wechselnden zu reden, genauso wie Elio alles was im Entferntesten mit Jasper zu tun hatte vermied. Jedes Mal, wenn Elio und sie etwas gemeinsam unternahmen, fehlte die Vertrautheit der letzten Jahre. Es war, als hätten sie nach und nach eine unsichtbare Mauer aufgebaut. Und nun saß er trotzdem auf dem Dach, das erste Mal seit Wochen, und wartete auf sie. Mathilda rang bereits seit zwei Stunden mit sich, ob sie nicht doch hinuntergehen gehen sollte. Sie vermisste ihn und seine Geschichten, die Abende auf dem Bushäusschen und spätabendlichen Fensterbankgespräche. Schließlich saß sie doch auf der Haltestelle neben Elio und sie schauten schweigend der Sonne beim Untergehen zu. Dann hielt er ihr die Hand hin. Sie schlug ein. In dieser Nacht schlossen sie einen stillen Pakt um ihre Freundschaft zu retten: Ihre Freundschaft war wichtiger als alles andere. Es war genau dieser Pakt, der im Winter Mathilda ihren ersten Liebeskummer bescherte. Jasper hatte sich zum Jahreswechsel von ihr getrennt, weil er genau wie alle anderen auch sah, wie alles um Mathilda herum strahlte, wenn sie mit Elio unterwegs war. Nur die beiden selbst sahen es zu dem Zeitpunkt noch nicht, oder wollten es nicht sehen. Elio hatte seine Beziehung am gleichen Tag beendet. Am Silvesterabend saßen die beiden gemeinsam auf ihrem Dach und leerten eine große Flasche ekelhaften Punsch. Es war der Abend, an dem Elio Mathilda beinahe gesagt hätte, was er für sie empfand. Doch obwohl er betrunkener war als jemals zuvor, hatte er nicht den Mut, die Worte auszusprechen.
Im Sommer danach fuhr Mathilda mit einigen Freundinnen nach Marseille in ein Kunstcamp. Die Wochen zuvor hatte sie fast ausschließlich mit Elio verbracht, denn dieser Sommer sollte wieder wie die in ihrer Kindheit werden, grenzenlos und voller kleiner Abenteuer. Parallel dazu liefen die
Vorbereitungen für die Hochzeit von Elios Eltern, die am letzten Wochenende der Sommerferien heiraten wollten. Am Abend vor der Hochzeit stand Elio vor ihrer Haustür, die Augen rot und verquollen. Bestürzt erfuhr Mathilda, dass Elios Mutter wieder in Kontakt zu ihrem Exfreund aus Griechenland stand, mehr noch, wieder eine Beziehung mit ihm angefangen hatte. Während drüben gestritten wurde und Mathildas Eltern im Hintergrund allen Gästen die Absage der Hochzeit mitteilten, schickte Mathilda Elio duschen und machte Pfannkuchen. Draußen begann es wolkenbruchartig zu regnen, was den liebevoll dekorierten Garten nebenan in eine einzige Matschkuhle verwandelte. Weil sie nicht aufs Dach der Bushaltestelle konnten, lagen sie schließlich auf Mathildas Bett und Elio starrte die Wand mit den Postkarten aus Griechenland und Bildern der letzten Jahre an. Mathilda schaute ihn an und erinnerte sich, wie aufgeregt er vor drei Jahren mit dem Brief seiner Mutter in ihre Küche gestürmt war. Elio war immer für sie da gewesen und heute musste sie für ihn da sein, nur wusste sie nicht wie. Denn im Augenblick schlug ihr Herz so laut, dass man es wahrscheinlich bis zu Klaras Hof hören konnte und sie konnte sich nicht länger vorspielen, sie wüsste nicht, was es bedeutete.
Nur wenige Tage später fielen die ersten Blätter und Elios Mutter reiste ab. Er sprach vorher nicht mehr mit ihr und zog erst aus Mathildas Zimmer aus, als seine Mutter im Flugzeug nach Griechenland saß. Weil sie beide jetzt wichtige Prüfungen schrieben, wurde das Dach der Haltestelle an sonnigen Nachmittagen zum Ort für Geschichte, Physik und Mathematik. Gemeinsam brachten sie Elios Vorabitur hinter sich und seinen Vater endlich wieder zum Lächeln. Im Frühling stellte Mathilda einige ihrer Bilder auf einer Vernissage in Hamburg aus und wurde dafür ausgezeichnet. Neben dem
Bildern und Postkarten in ihrem Zimmer landete auch der Flyer für ein Kunstgymnasium in Süddeutschland an ihrer Wand. Ihre Bewerbung im Jahr zuvor war abgelehnt worden, doch als die beiden am Ostersamstag oben auf ihrem Dach saßen, wusste sie plötzlich genau, was sie malen musste.
Es war der erste Ferientag, zumindest für Matilda. Elio hatte wenige Wochen zuvor seinen letzten Schultag gehabt und saß nun neben ihr auf dem Dach. Die Planung für den Sommer lief auf Hochtouren, war es doch der letzte Sommer, den die beiden so gemeinsam in ihrem Dorf verbringen würden. Im nächsten Sommer würde Elio vielleicht auf Reisen sein, Mathilda vielleicht im Ausland. Die letzte Chance auf perfekte Lagerfeuer und lange Tage am See, Pfannkuchen um Mitternacht und Sonnenaufgänge auf ihrem Dach. Vielleicht die letzte Chance, Elio endlich das zu sagen, was sie seit Ewigkeiten vor sich herschob. Nach diesem Sommer würde sich eh alles ändern, warum nicht auch ihre Freundschaft? Doch Mathilda sagte nichts, den ganzen Sommer lang nicht. Zu groß war die Angst, ihre unerschütterliche Freundschaft zu verletzten. Auch Elio sagte nichts, stattdessen tat er alles um zu verdrängen was eh schon alle wussten. Wieso sollte er riskieren sie zu verlieren, wenn er sie zumindest als beste Freundin ein Leben lang an seiner Seite wissen konnte? Lieber genossen sie ihren letzten Sommer in Freiheit und lebten jede Sekunde davon. Die Realität kam plötzlich, wie ein Wolkenbruch.
Der letzte Sommertag fiel unerklärlicherweise auf einen Dienstag, am nächsten Tag würde Mathildas letztes Schuljahr beginnen. In der Post war ein Brief in einem bunten Umschlag mit glänzendem Siegel. Mathildas verspätete Annahme für die Kunstschule. Den ganzen Nachmittag hatte sie Koffer gepackt und dann saß sie neben Elio auf ihrem Bett, während es draußen wie in Strömen goss und man nicht einmal mehr Elios Zimmerfenster sehen konnte. Er las immer wieder ihren Brief, und wenn er am Ende angekommen war hob er den Kopf und lächelte sie traurig an. Mathilda wünschte sich, er
würde etwas sagen, wenigstens versuchen, sie zum Hierbleiben zu überreden. Doch er tat es nicht und Mathilda wusste, dass sie ihm nicht sagen können würde, was sie fühlte. Jahrelang hatte sie gehofft, er würde etwas sagen, so wie die Leute im Dorf es ihr immer prophezeit hatten. Und nun war es vorbei und ein neues Kapitel begann. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens umarmte er sie dann und sie begann zu weinen. So viele Worte hatten sie über all die Jahre gesagt, so viel Liebe, Freude und Leid geteilt und trotzdem schien nichts für diesen Moment auszureichen.
Bei Sonnenaufgang standen sie beide mit Mathildas Eltern und Elios Vater an der Bushaltestelle. Viele andere Nachbarn und Freunde waren auch gekommen. Nachdem Mathilda sich von allen verabschiedet hatte, blieb nur noch Elio übrig. Sie schauten sich an und dann kramte Elio in seiner Hosentasche. Elio zog ein geflochtenes rosa Armband heraus, genauso eines wie er es schon jetzt neben dem alten blauen trug und band es ihr um. Sie übergab ihm den Umschlag mit der Anweisung, ihn erst zu öffnen, wenn sie im Bus saß. Als der Bus neben der Traube Menschen anhielt, drückte er ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und verfluchte sich innerlich dafür, dass er es ihr nicht gesagt hatte. Aber sie hatte sich für eine Schule am anderen Ende des Landes entschieden, ohne mit ihm darüber zu reden, was wohl ein deutliches Zeichen war, dass es nie mehr als Freundschaft werden würde. Als der Bus abgefahren war, kletterte Elio oben aufs Dach und öffnete den Umschlag. Es war Mathildas Bewerbung für die Schule und ein gemaltes Bild. Auf dem Bild waren Mathilda und er auf dem Dach einer Bushaltestelle unter dem Sternenhimmel zusehen. Es war das schönste, was sie jemals gemalt hatte. Auf der Rückseite verabschiedete sie sich von ihm. Sie dankte ihm für die Geschichte und all die Abenteuer. Und sie sagte ihm, dass er für immer ihr bester Freund bleiben würde, für immer der Mensch den sie am meisten liebte.
2124 Tage später, Hamburg
Kalter Wind zog über die Bahnsteige. In der Ferne erklangen leise die Glocken einer Kirche und irgendwo heulten Polizeisirenen auf. Ein junger Mann verließ die ungewöhnlich stille Wandelhalle und blickte sich suchend um. Über den Häusern im Osten war bereits ein erster Streifen der Morgendämmerung zu erkennen. Nach kurzem Überlegen ging der Mann zur Bushaltestelle und musste schmunzeln. Die glatten, dünnen Glaswände und das geschwungene Metalldach waren nicht mit dem Holzbalkenbau zuhause zu vergleichen. Zuhause, dachte er sich, dass ist ein merkwürdiger Begriff. Zuerst hatte es ihm nicht in den Kopf gewollt, sein ganzes Leben an einem Ort zu verbringen und hatte es seinem Vater auch reichlich übel genommen, als sie fest in sein Heimatdorf gezogen waren. Dass sie ihr Nomadenleben aufgaben, war dem elfjährigen Elio einfach nur unnötig und öde erschienen. Während der ersten Wochen und Monaten war es nicht leicht gewesen und selbst nach Jahren hatte er sich manchmal noch wie ein Außenstehender gefühlt. Es gab immer noch eine Vorzeit, eine Zeit in der er noch nicht da gewesen war und die er nur aus Erzählungen kannte. Für Mathilda gab es nur eine Nachzeit, die Zeit nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte. Das ausgerechnet sie, die ihr Zuhause liebte wie keine Zweite und zu der kein anderer Ort auf der Welt besser passen würde, als ein Dorf mit alten Fachwerkhäusern und Wildblumenfeldern, wegging, hätte er nie geglaubt. Es war eigentlich immer klar gewesen, dass er weggehen würde. Abenteuer erleben, Menschen treffen. All das, wovon sie als Kinder geträumt hatten, was sie leise den Sternen
entgegengeflüstert hatten, hatte sich gedreht. Mathilda hatte nie von einem Leben in der Stadt gesprochen, aber als sie überraschend das Stipendium erhielt, packte sie innerhalb weniger Stunden ihre Taschen und stieg in den Bus gen Süden. Elio war wenige Wochen später losgefahren. Er hatte den alten Bulli flottgemacht und war abgehauen. Quer durch Europa, mal ein paar Tage hier, mal eine Woche da. Er hatte sogar seine Mutter und seine Halbschwester in Griechenland besucht. Dann hatte er irgendwo in Südfrankreich Klara wieder getroffen, war ein paar Monate dort geblieben. Er verliebte sich, jedoch nicht komplett. Und als Klara nach Deutschland zurückkehren wollte, brach es ihm nicht einmal das Herz. Sie komplett zu verlieren tat nicht ansatzweise so weh, wie Mathilda davon fahren zu sehen. Jetzt stand er vor einer großen Glastür und betrachtete den kunstvoll verschlungen Namen der Galerie. La Galerie de la Princesse Étoile. Die Galerie der Sternenprinzessin. Mathilda hatte ihre Galerie nach seiner Geschichte benannt, nach der Figur, die sie darin gespielt hatte. Dass er sich die Geschichte bereit wenige Stunden nachdem sie sich kennengelernt hatten ausgedacht hatte, schien ihm heute unwirklich. Elio hatte ihr an dem Abend erzählt, dass er am liebsten wieder wegfahren wollte und sie hatte ihm erzählt wie schön die Sommer in ihrem Dorf waren. Er war der Drachenfürst gewesen unbesiegbar und auf der Suche nach Abenteuern, während sie als Sternenprinzessin mutig für ihre Träume und ihre Zuhause gekämpft hatte. War es wirklich schon so lange her, dass sie Kinder gewesen waren? Waren wirklich schon über drei Jahre vergangen, seitdem Mathilda weggegangen war? Wann hatten sie den Kontakt verloren? Die Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. „Elio?“ „Hey, Mathilda.“
Zwei junge Menschen stehen an einer Bushaltestelle. Sie schauen sich scheu an, wissen beide nicht genau, was sie sagen sollen. Den ganzen Nachmittag sind sie durch die Stadt gelaufen und haben Belanglosigkeiten ausgetauscht. Ja, seinem Vater geht es gut. Nein, sie war Weihnachten auch nicht zuhause, zu viel Arbeit hier. Er erzählt von der Welt und sie redet von den Bildern, die sie diesen Sommer zuhause malen will. Vielleicht käme er ja auch ins Dorf, meint sie scheu. Ja, vielleicht. Er müsse mal wieder Pfannkuchen essen, antwortet er. Und auf Dächer klettern, befindet sie. Das könne man hier in der Stadt viel zu selten. Sie lächeln sich an. Es kribbelt immer noch in Mathildas Magen, wenn sie ihn so grinsen sieht. Sie strahlt immer noch, denkt Elio, wie ein Stern.
Vielleicht sind Sommer nicht nur endlos wenn man noch ein Kind ist, sondern auch wenn man erwachsen wird.