Deutscher Buchpreis 2020 – Annette, ein Heldinnenepos

Im Herbst haben bestimmt einige unser Mitglieder das kleine Heftchen mit den Vorstellungen der Werke der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelesen, dann kam eine Entscheidung, mit der sicher nicht viele gerechnet hatten. Dr. Wolfgang Butt hat uns eine Leseempfehlung geschickt, herzlichen Dank dafür.

 

 

Recycling eines unzeitgemäßen Genres

Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass man noch Heldenepen verfassen kann, doch Anne Weber hat mich mit Annette, ein Heldinnenepos eines Besseren belehrt. Und mehr als das: Sie hat das Genre recycelt und ihm eine Verjüngungskur verpasst, die es in sich hat; vielleicht ist es dadurch wieder zeugungsfähig geworden und kann sich fortpflanzen.

Ich lese diesen Text und reibe mir die Augen und es geht mir wie der Autorin, als sie ihrer Heldin gegenübersitzt, ihre Geschichte hört und sich fragt: „Dich gibt’s? Dich gibt es wirklich?“

Ja, ich reibe mir mehrfach die Augen bei der Lektüre dieses Textes und empfinde Dankbarkeit dafür, dass es ihn gibt, dass er geschrieben wurde und ich ihn lesen kann. Es drängt mich, eine Eloge zu verfassen, auch etwas aus der Mode Gekommenes, das man vielleicht recyceln sollte, unter Verzicht auf die Beflissenheitsfloskeln, die sich gleich aufdrängen, denen es jedoch zu widerstehen gilt. Wohlfeile Vokabeln aus landläufigen Beweihräucherungs-, Betroffenheits- und Empörungslitaneien; ich nenne nur eine pro toto: zutiefst. Man könnte im Folgenden beinahe jedes Adjektiv mit dem Adverb zutiefst versehen, dann wären wir mittendrin, doch genau das hat Anne Weber nicht verdient, keine Beweihräucherung, keinen Verweis auf Höheres und Hehres, kein salbaderndes „zutiefst“. Im Gegenteil, ein handwerklich gemeintes „gut gemacht“ ist eher angebracht.

Was ist denn gut gemacht an diesem Heldinnenepos? Anne Weber hat dem Genre eine gegenwärtige, menschliche Dimension gegeben (ob der Wechsel von männlich zu weiblich dafür mit ausschlaggebend war, lasse ich dahingestellt). Die Lebensgeschichte ihrer Heldin ist für einen schreibhungrigen Geist ein gefundenes Fressen, aber eben auch ein Fund, den man erst machen und dessen Potential man erkennen muss: Von der Jugend der heute fast hundertjährigen Annette Beaumanoir in einem kommunistischen Elternhaus in der Bretagne über ihre Beteiligung an Aktionen der Résistance gegen die deutsche Besatzung, ein anscheinend nebenbei absolviertes Medizinstudium und Berufstätigkeit als Ärztin (daneben Mutter von drei Kindern) im Marseille der frühen Nachkriegszeit, in der sie sich für den Freiheitskampf Algeriens einsetzt, dafür in Frankreich verhaftet und verurteilt wird, nach Tunesien flieht und schließlich das nahezu nicht existente algerische Gesundheitswesen unter der Regierung Ben Bella aufbaut, bis sie unter Boumedienne auch dort in Ungnade fällt und in die Schweiz flieht, wo sie als Medizinerin tätig ist, bis eine Amnestie ihr die Rückkehr nach Frankreich ermöglicht. Was für ein Leben.

Die sprachliche Form, in der dieses Leben geschildert wird, eine weitgehend alltägliche, aber rhythmisierte Prosa ohne festes Versmaß, leistet zweierlei: einerseits hebt sie das Erzählte ab vom Alltäglichen, anderseits jedoch nicht so weit, dass es unserer Wirklichkeit entschwebte. Annette und ihr Leben bleiben erdnah, greifbar. Höhere Mächte, wie sie im traditionellen Epos nicht selten die Hand mit im Spiel hatten, haben ausgedient. Was Annette und ihr Handeln antreibt, ist nichts weiter als ein simpler – und das heißt: nicht religiös oder ideologisch gestützter, sondern primär menschlicher – Sinn für Gerechtigkeit. Damit eckt man an, stört glatte Abläufe, gerät zwischen Fronten, landet auf der falschen Seite und bei falschen Freunden. Nichts davon ist der Heldin dieses Buchs erspart geblieben, und nichts davon wird um ihres Heldinnenstatus willen unter den Teppich gekehrt. Denn da ist diese nie exaltierte Erzählstimme, die bei aller Loyalität und Sympathie für die Protagonistin eine nüchterne Distanz hält, kühlen Kopf bewahrt und Fragen stellt, die ihre Berechtigung haben, auch wenn sie nicht beantwortet werden. Da ist zugleich Raum für Ironie, in alle Richtungen, und die Autorin hat offenbar gut genug recherchiert, um auch dem selbstgerechten Frankreich die ein oder andere Wahrheit ins Stammbuch zu schreiben. Nicht nur Individuen begeben sich auf Irrwege.

Ich hätte die Geschichte der Annette Beaumanoir, wäre sie als Sachbuch verfasst worden, vermutlich halb gelesen aus der Hand gelegt. Hier stattdessen, im Heldinnenepos, möchte ich die ganze Zeit dabeibleiben, nicht nur, um den Wegen und Irrwegen der Hauptperson, sondern vielmehr um den erzählerischen und sprachlichen Wegen der Autorin zu folgen, die die Gratwanderung, die ihr Experiment darstellt, mit Bravour meistert. Es ist ja nicht so, dass der Versuch, die alte Form des Epos zu recyceln, dazu noch als HeldINNenepos, nicht ebenso gut scheitern und zu einer unfreiwilligen Parodie hätte geraten können. Auf der anderen Seite des Grats wäre der Absturz in die Banalität vorstellbar gewesen.  Doch nichts dergleichen. Der Sog der ohne syntaktische Verrenkungen rhythmisch fließenden Sprache, mit der uns Anne Weber in den Bann ihrer Erzählung zieht, hält an bis zum Schluss, trotz der Nüchternheit des Tons.

Am Ende greift die Autorin, die generell eher zum understatement als zum overstatement neigt, dann doch noch in ein höheres Fach, indem sie das Leben der Annette Beaumanoir durch einen indirekten Vergleich mit Sisyphos ins Mythisch-Allgemeine hebt. Ihr Bezugspunkt freilich ist die aller Tragik abholde, dem Positiven zugewandte existentialistische Interpretation von Albert Camus, in dessen „Der Mythos des Sisyphos“ es sinngemäß heißt (Zitat Anne Weber): „Der Kampf, das / andauernde Plagen und Bemühen hin zu / großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz / zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten / glücklich vorstellen.“

 

Anne Weber, Annette, ein Heldinnenepos, 208 S. Matthes & Seitz. Deutscher Buchpreis 2020