„Auch der ewige Sommer muss enden“
Wenn jemand Celeste Waterkamp fragen würde, wie ihrer Meinung nach Hamburg schmecke (was wahrscheinlicher war, als man vielleicht denken würde, denn die Leute, mit denen Celeste normalerweise redete, stellten ungewöhnlichere Fragen als die meisten Menschen), würde sie antworten: Nach Salz. Nach einer leichten Spur von Schmieröl. Nuancen von Fisch und Franzbrötchen. Der Geruch eines Regenschauers auf der Zunge. Und der Geschmack von Möwenschreien, falls man sich das irgendwie vorstellen kann. All diese verschiedenen Aromen vermischten sich auf ihrer Zunge zu diesem ganz besonderen, persönlichen Hamburg-Geschmack, der ihr immer sofort sagte, dass sie sich wieder in der Hansestadt aufhielt und den sie jedes Mal wiedererkannte, obwohl sie höchstens ein paar Wochen im Jahr hier verbrachte. Es war dieselbe Magie der Vertrautheit, die sie auch jetzt automatisch aufstehen ließ, als die Hochbahn die richtige Station erreichte. Es zischte, während die Schiebetüren der Bahn sanft aufglitten. Celeste trat auf den Bahnsteig, als sie bemerkte, dass der eine Typ aus der Bahn sie immer noch mit offenem Mund anstarrte, ein mickriges Bürschchen, vielleicht Anfang zwanzig, schmalbrüstig, gekleidet in ein kariertes Polohemd, die Haare fantasielos gekürzt, Streberbrille auf der Nase. Maschinenbaustudent? Celeste drehte sich mit betont dramatischer Geste um, warf ihr zu Ehren ihres Vaters blau-weiß gefärbtes Haar zurück, stemmte die Hände in die Hüften, blitzte den Typen kalt mit ihren kaleidoskopfarbigen Augen an und fragte so laut, dass es auf dem ganzen Bahnsteig zu hören war: „Was ist? Hast du noch nie gesehen, dass ein Mädchen im Bikini U-Bahn fährt? Oder wenn ich mir dich so ansehe: Hast du vielleicht allgemein noch nie ein Mädchen im Bikini gesehen? Oh, entschuldige, ich verstehe, du erlebst gerade diesen ach-so-wichtigen Moment in der männlichen Entwicklung, wo einem klar wird, dass es auch noch ein Geschlecht mit ganz anderen Körpern gibt! Das kann natürlich ein kleiner Schock sein, aber eigentlich sollte dieser Moment ein bisschen früher kommen, meistens so mit sieben Jahren.“ Karohemd wurde knallrot im Gesicht und drehte schnell den Kopf. Celeste wollte noch nachlegen, aber dann blinkte auch schon das rote Warnlicht und die Türen schlossen sich mit einem Geräusch wie von einer kaputten Luftpumpe. Celeste sah der Bahn nicht lange hinterher, sondern drehte sich um, ging so schnell es ihre regenbogenfarbenen Flipflops erlaubten die Treppen hinunter und trat auf eine Straße irgendwo im Hamburger Norden. Während sie ihren Weg fortsetzte, zog sie immer wieder irritierte, missbilligende oder auch einfach nur faszinierte Blicke auf sich. Selbst für Hamburger Verhältnisse, wo man wenigstens auf dem Kiez so einiges gewohnt war, bot Celeste Alba Waterkamp, wie sie sich selbst nannte, eine ungewöhnliche Erscheinung. Dass ihr voller Name so nicht in ihrem Pass stand, war eine komplizierte Geschichte und hatte mit ihrem Vater zu tun. Celeste war recht schmal gebaut und für ihre siebzehn Jahre weder besonders groß noch besonders klein, dafür setzte nicht nur ihre Kleidung ein deutliches Ausrufezeichen: Heute bestand sie aus einem bunten Schal, einem Bikinioberteil in allen Farben des Regenbogens und einem perlenbesetzten Rock aus künstlichen Kormoranfedern. Auch ansonsten war Celeste mit ihren Federohrringen, dem dunklen Eyeliner, den unterschiedlich gefärbten Lippen (für die Oberlippe benutzte sie lila, für die Unterlippe rot) und natürlich ihrem vor dem letztem Glied gekappten rechten kleinen Finger niemand, den man leicht übersah. Eine Vielzahl von Ketten, Armreifen und Amuletten, die heilige Symbole aus mindestens zehn verschiedenen Religionen zeigten, rundeten ihre Erscheinung ab. Sie passten hervorragend zu etwa fünfzehn kleineren Tätowierungen, die sich über Arme, Nacken und den ganzen Oberkörper verteilten und die weitere mystische Zeichen abbildeten. Die fast hüftlangen Haare färbte sie sich normalerweise in den Farben des Landes, in dem sie sich gerade aufhielt – rot-gelb, grün-weiß-rot, weiß-rot, rot-grün, sehr oft rot-blau-weiß und selten mal sogar orange-weiß-grün. Doch heute trug sie eine lässige Kombination aus hellblau und weiß, mit der sie bei jedem Karneval sofort der Hingucker gewesen wäre. Ihre gefärbten Haare bauschten sich im leichten Wind, als Celeste in eine Seitenstraße einbog und endlich ihr Ziel vor sich sah. Das einstöckige Ziegelhaus lag in einer ziemlich grünen Nachbarschaft, die hauptsächlich aus Einfamilienhäusern und kleineren Mehrfamilienhäusern bestand; gegenüber lag ein ziemlich kleiner Park mit einem noch winzigeren Spielplatz daneben. Der taubengraue Himmel über den satt dunkelgrünen Eichen hinter dem Haus verlieh diesem etwas auf düstere Weise Würdevolles. Leichter Wind rauschte in den Bäumen und es klang, als würden dreihundert Flötisten gleichzeitig in zerknitterte Papiertüten hauchen. Ein Kiesweg führte zur offenen Eingangstür, über der ein Schild von der Bauart hing, die für Gaststätten typisch ist: „ROSARIO. Restaurante, Sportbar & Tango Club“. Im Gartenbereich links standen einige Tische unter flaschengrünen Sonnenschirmen, die das Logo einer Hamburger Biermarke zierte, doch die meisten waren unbesetzt. Plötzlich zögerte sie. Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Vor einigen Monaten? Nein, verdammt, es war schon fast ein Jahr her! Jedes Mal habe ich Angst, dass sich die Dinge geändert haben, Angst, dass ich es irgendwann nicht mehr wiedererkenne, dass es aufhört, sich wie der Ort anzufühlen, der so wichtig für mich ist. Aber was soll´s, ich werde es nicht herausfinden, wenn ich vor der Tür rumstehe wie ein Stapel Leergutkisten! Celeste fasste sich ein Herz und trat ein. Innen sah es in vielerlei Hinsicht so aus wie in allen deutschen Gaststätten: Tische aus dunklem Holz, Speisekarten und Platzdeckchen darauf, rechts ein Tresen mit Zapfanlage. Aber es gab auch viele Eigenheiten. Hinten links, neben dem Eingang zur Küche, war eine Freifläche geschaffen und eine Lampe tauchte die nackte weiße Wand in ein hellblaues Licht – an drei Abenden die Woche fanden dort Tanzveranstaltungen statt. Die Wand hinter dem Tresen war über und über mit Fotos und sonstigem Zierrat bedeckt, überwiegend Bilder von argentinischen Fußballspielern. Einige Schwarzweißfotos zeigten jedoch auch Soldaten in Uniformen der argentinischen Armee, dazwischen ein alter Kalender von 2006. Drei Trikots hingen über dem Tresen: Das linke von der argentinischen Nationalmannschaft, mit der Nummer elf und dem Namen Kempes. Auch das mittlere Trikot zierte Mario Kempes´ Name, allerdings war es vom Verein Rosario Central. Das rechte war wieder ein Trikot der Nationalelf, der Name darauf lautete Maradona. Daneben hing ein Poster von Lionel Messi, auf das jemand mit rotem Filzstift „101% Anti NOB“ geschrieben hatte, was Celeste ein leises Lächeln entlockte. Wie sie nur zu gut wusste, war der Besitzer der Kneipe ein glühender Anhänger von Rosario Central, daher hatten sowohl Kempes als auch Angel Di Maria- dessen Trikot an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt war- als ehemalige Spieler Rosarios Ehrenplätze erhalten. Doch Lionel Messi hatte für den Lokalrivalen Newell’s Old Boys gespielt und daher einen eher schweren Stand. Ihr Blick glitt weiter durch den Raum. Rechts über dem Tresen hing immer noch der wie meistens auf stumm gestellte Fernseher, der Wiederholungen von argentinischen Ligaspielen zeigte. Die Kopfseite des Raumes wurde von einer großen Kreidetafel dominiert, auf der normalerweise das Menü des Tages geschrieben stand, doch heute verkündete sie nur: „Heute Abend 20:00 Fußball live: Argentina vs. Kroatien.“ All diese Eindrücke fluteten normalerweise wie ein Jahrhunderthochwasser auf den arglosen Gast ein, doch Celeste war das Zeug schon gewohnt und konzentrierte ihre volle Aufmerksamkeit auf den kleinen, etwas dicklichen Mann hinter dem Tresen, der gerade ein Bierglas auswischte. Er war braungebrannt, trug eine fleckige hellblaue Schürze, sein angegrautes Haar lichtete sich schon etwas und er schien sie bisher nicht zu bemerken. Celeste räusperte sich: „Hallo, Papa.“
Ramón Alba Galvez rutschte das Glas aus der Hand, als er ihre Stimme hörte, und nur seine guten Reflexe, die noch aus seiner Militärzeit stammten, bewahrten das Glas davor, sich in einen Splitterregen aufzulösen. Er fing es schnell mit der linken Hand auf und stellte das Bierglas eilig ab. Der argentinische Gastwirt schmiss den Lappen beiseite und kam für seine untersetzte Gestalt erstaunlich flink hinter dem Tresen hervorgestürzt. „Celeste! Gott sei es gedankt, mein kleines Mädchen ist zu mir zurückgekehrt! Mein Augenstern, mein Ein und Alles, mein El Dorado, warum hast du nicht gesagt, dass du in der Stadt bist? Ich hätte dich abgeholt“, sagte er mit nach all den Jahren in Deutschland immer noch schwerem lateinamerikanischem Akzent.
„Ich wollte dich überraschen, Papa.“
„Dios me salve, das ist dir gelungen!“ Und Ramón zog sie mit seinen baumstammartigen Armen in eine Bärenumarmung, wobei er sie fast erdrückte. Celeste presste sich an ihn und genoss es für einen Moment einfach nur, ihrem Vater nah zu sein, bis sie keine Luft mehr bekam und sich aus seinen Armen heraus kämpfte. Tatsache war, sie hatte ihrem Vater deshalb nicht vorher von ihrem Besuch erzählt, weil sie genau wusste, dass er ein unglaubliches Brimborium veranstalten würde. Und so etwas konnte Celeste nicht ausstehen, sie wollte sich nicht wie bei einem Staatsbesuch oder wie eine Kriegsheimkehrerin fühlen, sondern für einen Moment einfach mal normal und vor allem zu Hause.
„Komm, setz dich, mein Mädchen. Kann ich dir was anbieten? Etwas zu trinken oder hast du Hunger? Die Küche hat noch nicht geöffnet, aber das ist kein Problem.“ Ramón hatte inzwischen ins Spanische gewechselt, eine Sprache, die auch Celeste seit frühester Kindheit beherrschte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie mit dieser Sprache aufwachsen solle, hatte bei ihren Besuchen immer geduldig mit ihr geübt und natürlich hatte sie auch Spanisch gesprochen, als sie mit fünf Jahren mit ihm nach Rosario geflogen war, um ihre argentinischen Verwandten kennenzulernen. Vier Wochen waren sie dort unten geblieben und obwohl sie unter sehr einfachen Bedingungen im Haus ihrer Großmutter gelebt hatten, war Celeste selten glücklicher gewesen. Doch trotz ihrer Sprachkenntnisse schwirrte ihr von seinem Redeschwall der Kopf und sie antwortete achselzuckend: „Eine Cola vielleicht.“ Flink wie ein großer Schneeball, der einen Berg hinunterrollt, trippelte Ramón zu dem wuchtigen Eisschrank und nahm innerhalb eines Atemzuges eine Flasche Cola heraus, griff mit der anderen Hand ein Glas und füllte es so rasch, dass Celeste hätte schwören können, dass er irgendwo unter seiner Schürze und dem ausgeleiertem T-Shirt noch zwei bis drei weitere Arme versteckte- zumal nun auch noch scheinbar aus dem Nichts eine Schüssel mit Erdnüssen in der glaslosen Hand aufgetaucht war. Mit dieser Hand wies er jetzt auch nach draußen. „Setzen wir uns! Hier können wir uns nicht richtig unterhalten.“ Im selben Moment erschien ein etwa fünfzigjähriger Mann mit schütterem Haar und Holzfällerhemd in der Tür zum Gartenbereich: „`Tschuldigung Ramón, besteht die Möglichkeit, dat ich dat her mol auffüllen kann?“ Er hob ein leeres Bierglas. „Zapf dir selbst was, Erwin. Ich bin beschäftigt.“ Erwin zuckte mit den Achseln, trat zur Zapfanlage herüber und nickte Celeste freundlich zu. Ramón indes führte seine Tochter mit Nachdruck durch die Tür und zu einem unbesetzten Tisch in der Ecke, direkt neben einer Thujahecke. „So, mein Augenstern, dann erzähl mal, wie es dir so geht. Wie stehen die Dinge auf diesem komischen Schiff? Behandelt Daniela dich gut?“ Celeste seufzte und verdrehte die Augen. „Natürlich, sie ist schließlich meine Mutter. Und JA, ansonsten ist auch alles gut. Wir sind noch bis morgen hier in Hamburg und fahren dann weiter nach Amsterdam. Und im Herbst geht es dann wieder in Richtung Mittelmeer.“ „Das ist doch kein Leben für ein Mädchen in deinem Alter, immer nur unterwegs! Was ist mit der Schule? Und du siehst so dünn aus, isst du genug?“ „PAPA. Ich brauche keine feste Schule, das geht heutzutage auch alles online.“ Keine ganze Lüge. Aber den Spruch „das ist doch kein Leben“ höre ich oft- auch von mir selbst. „Und bisher bin ich jedenfalls noch nicht verhungert. Es ist übrigens nicht gesund, sich immer so vollzustopfen.“ „Auf den Malvinas sind wir froh gewesen über alles, was es gab! Iss immer, wenn du kannst, du weißt nicht, wann es wieder was gibt.“
„Erzählst du das auch deinen Gästen? Oder hältst du dich nur selbst dran?“, fragte Celeste lachend und stupste ihrem Vater in den nicht unbeträchtlichen Bauch. Ramón warf einen beleidigten Blick auf seinen in den vielen Jahren als Kneipier angewachsenen Rettungsring und seufzte gespielt dramatisch. „Heilige Mutter Gottes, so weit ist es mit mir gekommen, dass ich mir solche Frechheiten von meiner eigenen Tochter anhören muss – die dazu immer noch herumläuft wie eine Tänzerin auf dem Karneval in Rio, die arme Sünderin! Grausame Welt, andere Väter sorgen sich über Töchter, die sich mit Rasierklingen ritzen, aber meine muss sich ja gleich die ganze Fingerkuppe abschneiden!“ Er bekreuzigte sich. „Das war wirklich nichts als ein kleiner Unfall, Papa- aber es macht eh keinen Unterschied, ob man jetzt zehn oder neuneinhalb Finger hat.“
„Ich kenne keinen normalen Menschen, dem solche Sachen passieren.“
„Tja, ich bin halt kein normaler Mensch, Papa. Kennst du nicht den Spruch, dass das Äußere eines Menschen ein Spiegel seiner Persönlichkeit ist?“ Ramóns Blick wurde weich. „Und da ich deine Persönlichkeit kenne und über alles liebe, kann ich auch nichts gegen dein Äußeres sagen, mein El Dorado? Du bist wirklich sehr clever… Aber du hast Recht; ich bin auf der einen Seite vom Himmel gesegnet mit so einer wunderbaren Tochter und anderseits verflucht, weil ich sie nur so selten sehe.“ Seine Miene bekam etwas Flehendes. „Warum kommst du nicht und ziehst dauerhaft bei mir ein? Vor einigen Jahren, als du mal ein halbes Jahr hier warst, hat das doch auch super geklappt.“ Celeste wurde das Herz schwer. „Mama würde das bestimmt nicht zulassen“, sagte sie leise. „Und außerdem ist das Leben auf dem Schiff zwar anstrengend und unbequem, aber ich mag es auch, denn es ist spannend und aufregend.“ Ramón warf die Hände in die Luft.
„Was hat sich Daniela nur dabei gedacht, ein Kind in solcher Umgebung großzuziehen? Ist sie immer noch mit diesem Niederländer zusammen?“
„Mit Pieter van den Rhein? Nein, schon lange nicht mehr, weißt du doch.“
„Warum lebt sie dann immer noch auf seinem Schiff?“ „Weil sie dieses Leben nun mal mag.“ Tatsache war, dass Celeste nie ein anderes Leben gekannt hatte als dieses Vagabundenleben auf einem Hausboot voller frustrierter Aussteiger in der Midlifecrisis. All dies hatte sich deshalb ergeben, weil ihre Mutter an diesem regnerischen Herbstabend vor fast achtzehn Jahren ausgerechnet dann Spätdienst gehabt hatte, als ein gestresster Angestellter aus Rotterdam ihre Bar gewählt hatte, um seinen Kummer zu ertränken. Pieter van den Rhein hatte eigentlich einen guten Job im Europort gehabt, doch er hatte den Stress nicht mehr ertragen und es zudem aus tiefstem Herzen gehasst, im einem Büro zu arbeiten. Auf einer Geschäftsreise nach Hamburg war er abends dann in die Bar von Daniela gegangen und hatte irgendwann zwischen zwei Kurzen damit angefangen, ihr sein Herz auszuschütten: Wie sehr er seinen Job hasste, wie er unter dem Stress litt und dass er sich doch eigentlich ganz andere Dinge vom Leben erhofft hatte, Freiheit, Abenteuer und dass er schon immer den Traum gehabt hatte, ein Boot zu kaufen und damit um die Welt zu fahren. Daniela war eine gute Zuhörerin gewesen, hatte Pieters Sorgen ernstgenommen und ihn dazu ermutigt, tatsächlich ein Boot zu kaufen und seinen Traum wahr werden zu lassen. Und der Niederländer hatte sie beim Wort genommen, wirklich seinen Job geschmissen, sein Haus verkauft und dafür ein Hausboot erworben, das sich bald mit Gleichgesinnten gefüllt hatte. Als Pieter Daniela vor lauter Dankbarkeit für ihre Unterstützung eingeladen hatte, sich ihnen anzuschließen, hatte Celestes Mutter nicht lange überlegt: Sie war damals im zweiten Monat schwanger und obwohl sie bereits ein Arrangement mit Ramón getroffen hatte, wollte sie trotzdem definitiv nicht mit ihm zusammen leben – ihre Beziehung war nur von äußerst kurzer Dauer gewesen- und zudem ödete ihr Job in der Bar sie mehr und mehr an. Also hatte sie sofort eingewilligt, war auf Pieters Schiff Batavia gezogen und hatte Celeste schließlich in einer kleinen Klinik in der Bretagne zur Welt gebracht. Celeste war schon fast acht gewesen, als ihr zum ersten Mal dämmerte, dass sie ein alles andere als normales Leben führte. Statt in einer normalen Familie wuchs sie in einer Gemeinschaft von Leuten auf, die keine Lust mehr auf ihr altes Leben hatten, die Tage mit Faulenzen verbrachten, wenn sie sich nicht gerade mit Gelegenheitsjobs durchschlugen oder im Homeoffice arbeiteten und sich dennoch alle auf ihre eigene Weise um das kleine Mädchen kümmerten. Pieter hatte ihr Niederländisch beigebracht und ihr gezeigt, wie man ein Schiff steuerte. Von Klaus, einem ehemaligen Bankangestellten aus Düsseldorf, hatte sie zuerst Lesen und Schreiben gelernt, dann das kleine Einmaleins und später Englisch. Und selbst Jean-Luc Rouvier, ein Belgier, den Pieter noch aus Kindertagen kannte und der scheinbar keinen einzigen Tag seines Lebens mit echter Arbeit verbracht hatte, hatte Celeste in einem außer-gewöhnlichen Anfall von Aktivität Schwimmen und Tauchen beigebracht – er mochte faul wie ein sizilianische Katze sein, aber er hatte auch eine unbeholfen fürsorgliche Seite. All dies war seit frühester Kindheit ihr Leben gewesen, nur unterbrochen für ein halbes Jahr vor sieben Jahren, als ihre Großmutter plötzlich schwer erkrankt war und Daniela nach Hause zurückkehren musste, um sie zu pflegen. Sie hatte Bedenken gehabt, ihre Tochter allein auf dem Schiff zu lassen, doch die Wohnung ihrer Mutter wäre für drei Bewohner zu klein gewesen, daher hatte sie Celeste widerstrebend zu Ramón gebracht. Dieses halbe Jahr war die einzige Zeit in ihrem Leben gewesen, in der sie eine richtige Schule besucht hatte. Schon in frühester Kindheit hatte sie alles Mögliche wie nebenbei gelernt, später den nötigen Schulstoff per Fernkurs durchgearbeitet. Und so war es auch weitergegangen, als Daniela einige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter entschied, mit Celeste auf die Batavia zurückzukehren. Es gab kaum Druck oder Pflichten in ihrem Leben, Celeste konnte sich ihre Zeit selbst einteilen, tun und lassen ,was sie wollte, sah im Sommer alle paar Tage einen neuen Ort und floh im Winter mit den anderen Bewohnern der Batavia ins wärmere Mittelmeer. Und sie liebte dieses Leben auch. Aber es gab Momente, in denen sie sich fragte, was sie verpasst hatte und sich einfach danach sehnte, einen Ort zu haben, an den sie gehörte, einen Ort, an dem sie endlich einmal angekommen könnte. Das halbe Jahr in Hamburg war damals für sie eine mehr als große Umstellung gewesen, aber es hatte ihr auch klar vor Augen geführt, wie es war, irgendwo wirklich zu Hause zu sein. Und es gab keinen Moment, in dem sie dieses Bedürfnis danach so stark verspürte, wie während der Besuche bei ihrem Vater.
„Nicht nur Mama mag dieses Leben, sondern auch ich“, sagte sie so überzeugend wie möglich. „Da bin ich wie sie, ich brauche meine Freiheit.“
„Deine Mutter braucht keine Freiheit, sie braucht einen Priester“, knurrte Ramón. „Der Wahnsinn hat sich doch längst in ihrer Seele eingenistet, irgendwer muss sie auf den rechten Weg zurückbringen. Ich weiß, dass sie glaubt, sie könne dieses Leben für immer führen, aber keiner von uns wird jünger und irgendwann muss sie sich irgendwo niederlassen! Und dann steht sie da, ohne Arbeit, ohne Geld, weil sie siebzehn Jahre auf diesem Schiff vom Geld anderer oder von Gelegenheitsjobs gelebt hat! Deine Mutter ist eine närrische Träumerin.“ Ramón Alba Galvez starrte seine Tochter wehmütig an und erschien in diesem Moment wie ein treuer Hund, der sein Leben damit verbringt, auf die Rückkehr seines Herrchens zu warten. Er mochte noch so wenig mit ihrem Äußeren oder ihrer Lebenseinstellung einverstanden sein, er liebte Celeste dennoch über alles und nun war er nicht mehr als ein Vater, den es förmlich zerriss, seine Tochter nur an einigen wenigen Tagen im Jahr zu sehen. „Du fehlst mir immer so, Cariña“, sagte er liebevoll. „Ist es denn so vermessen zu verlangen, dass ich meine wunderbare Tochter öfter als nur alle Jubeljahre zu sehen bekomme? Aber nein, ihre Mutter muss sich ja unbedingt für Fernando Magellan oder Robinson Crusoe halten! Und dann stehe ich da wie ein Esel vor dem Herren, wenn du wieder sonst wo bist!“ Celeste wurde das Herz schwer. „Ich weiß“, flüsterte sie nur. „Ich weiß.“ Später in der Bahn sah Celeste ihr Spiegelbild in der Scheibe und plötzlich setzten ihre Selbstzweifel wieder ein. Wer bin ich? Sie starrte ihre sanften, herzförmigen Gesichtszüge an, die zierliche Nase, ihre vollen Lippen, die vielfarbigen Augen. Ich sehe aus wie von überall und nirgends. Ich könnte sagen, ich wäre Spanierin und sie würden mir glauben- ich könnte aber auch sagen, ich wäre Deutsche oder Dänin oder Ukrainerin und keiner würde es bezweifeln. Aber wer bin ich überhaupt wirklich? Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Geboren war sie in Frankreich, aber sie besaß dank ihrer deutschen Mutter den deutschen Pass- und nur den deutschen Pass. Ihr Vater war Argentinier, lebte aber in Hamburg, und sie selbst kannte sich zwar sowohl in Argentinien als auch in Hamburg aus- und an tausend anderen Orten-, war aber an keinem davon zu Hause. Ihr Vorname war lateinamerikanisch, ihr offizieller Nachname eingedeutscht niederländisch und Alba, der Nachname ihres Vaters, den sie wenigstens für sich selbst angenommen hatte, wenn schon nicht offiziell, kam wiederum aus dem Spanischen. Ich könnte entscheiden, dass ich Argentinierin bin, den argentinischen Pass beantragen- aber kann ich das überhaupt sein, wenn ich nur ein paar Wochen dort verbracht habe? Andrerseits- ich bin offiziell Deutsche, aber verbringe den Großteil meines Lebens in anderen Ländern. Mit Mama spreche ich Deutsch und ich denke auch auf Deutsch, aber ich spreche außerdem noch Englisch, Spanisch und Niederländisch fließend und dazu genug Französisch, Italienisch und Portugiesisch, dass mich jeder Einheimische versteht. Geboren bin ich in einem Kaff in der Bretagne, das ich seitdem nicht wiedergesehen habe. Ohne dass sie die geringste Kontrolle darüber hatte, wanderten ihre Finger zu der Tätowierung in ihrem Nacken: Nyár örökre stand dort, ungarisch für „endloser Sommer.“ Das habe ich mir letzten Sommer in Budapest stechen lassen, als wir die Donau hinaufgefahren sind. Seit Jahren lebe ich quasi tatsächlich im Traum vom ewigen Sommer und noch letztes Jahr habe ich daran geglaubt. Aber wenn man ehrlich ist: Das kann so nicht auf Dauer gut gehen. Jeder Sommer endet irgendwann. Ich liebe das Vagabundenleben zwar, genieße es unglaublich, so viele Orte zu sehen und nichts und niemandem verpflichtet zu sein, aber ich kann nie irgendwo ankommen. Ich weiß, dass man nicht für immer so weiterleben kann, aber Mama lebt immer noch im Traum vom Sommer ohne Ende. Sie ist wie die Grille in der Geschichte, die die warmen Tage mit Singen vertrödelt und dann kommt der Winter. Reisen sind toll, aber was ist eine Reise schon ohne den Moment, wo man wieder nach Hause kommt? Und diesen Moment kann ich nie erleben. Denn ich habe keine Heimat.
Als Celeste spät an diesem Abend auf die Batavia zurückkehrte, die in einer kleinen Marina an einem Nebenarm der Elbe lag, war ihre Mutter noch wach. Daniela Waterkamp saß auf dem Vorderdeck, einen Cocktail in der Hand, während ihre blaugrünen Augen auf den Horizont gerichtet waren. Ihre langen blonden Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden, das trotz erster Falten immer noch attraktive Gesicht war nur sparsam mit Makeup bedeckt. Sie drehte sich um, als sie ihre Tochter sah. „Celeste! Ich hab mich schon fast gefragt, wo du bleibst. Wie war es bei Papa?“
„Es wäre besser gewesen, wenn unsere gemeinsame Zeit nicht schon wieder nach ein paar Stunden vorbei gewesen wäre. Es kann mir noch so sehr gefallen, immer unterwegs zu sein, irgendwann möchte ich auch einfach ankommen. Ich hatte nie ein normales Leben oder ein Zuhause- wie soll ich dann wissen, wohin ich gehöre? Das alles hier war dein Traum. Aber ich frage dich: Wo bleibe ich, wo bleibt mein Leben in deinem Traum?“ Dies waren die Worte, die in Celestes Kopf entstanden und den Weg bis zu ihrer Zunge fanden. Deshalb war es wirklich schade, dass keine anderen Worte ihren Mund verließen als: „Gut. Wie immer.“