Der gemeinsame Nenner von Leif Randts Allegro Pastell, Lutz Seilers Stern 111 und Uwe Timms Heißer Sommer sind drei männliche Protagonisten (Jerome, Carl und Ullrich), die an den gesellschaftlichen Nahtstellen 1968, 1989 und in einer unbestimmten Zeit kurz vor Corona erwachsen werden (können/müssen).
Alle drei Männer sind nicht die Trendsetter in einer sich schnell wandelnden Welt, eher unsichere Mitläufer, die durch die von ihnen als dramatisch empfundenen Grenzerfahrungen die Entscheidungsmöglichkeit bekommen, ihr Leben und nicht die Wunschvorstellungen anderer zu leben.
Ullrich aus Heißer Sommer wird in die gesellschaftlichen Verwerfungen der Studentenrevolte 1968 in München und Hamburg geworfen. Er erlebt einen Universitätsbetrieb in Hamburg mit dem Muff von 1000 Jahren, probiert sich in Aktionen, die in der linken Szene Anerkennung versprechen, merkt aber schließlich, dass ihm die Schablone des Ideologieträgers zu eng wird. Nach schmerzvollen Erlebnissen als Linker in einer Fabrik in Hamburg, dem Abzug einiger ‚Kampfgenossen‘ Richtung Bauernhof im damaligen Zonenrandgebiet und unerfüllten Beziehungen zu Frauen strebt er nach Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit und geht zurück nach München.
Uwe Timm zeichnet in diesem Roman ein realistisches Bild der 68-er Zeit in dem kleinen gesellschaftlichen Segment der Studentenbewegung. Der den Figuren in den Mund gelegte, nicht nur aus heutiger Sicht z.T. verwirrende politisch-bornierte Jargon (links und rechts) und die gnadenlose Direktheit der Interaktion ließen in mir Erinnerungen an meine Erfahrungen in und mit dieser Zeit lebendig werden.
Carl aus Stern 111 wird kurz nach dem Mauerfall faktisch zum Waisen, da die Eltern von Gera in den Westen flüchten. Carls ‚Flucht‘ geht nach Ostberlin, wo er durch Zufall und Not auf eine Gruppe von Hausbesetzern in Mitte stößt. Die neue ‚Familie‘, ein Kaleidoskop von herrlich skurrilen, menschlich-warmen Figuren, hat ihren Lebensmittelpunkt in der ‚Assel‘, einer (bis vor Kurzem real existierenden) Kneipe in der Oranienburgerstraße. In der Assel lassen sich die rapiden Veränderungen nach der Wende beobachten, während Carl seinen unsicheren, sehnsüchtigen Weg zum Schriftsteller kraft- und lustvoll beschreitet. Ganz anders (und für Carl lange unverständlich) seine Eltern, die erst getrennt, dann gemeinsam die typischen Flüchtlingsanpassungsprozesse in Westdeutschland durchlaufen, ehe sie nach Kalifornien auswandern, dem Ort der tief verankerten Sehnsucht nach individueller Freiheit.
Der Preis der Leipziger Buchmesse an Lutz Seiler würdigt sicher nicht nur die Coming of Age Geschichte Carls. Der Roman beleuchtet auch den Untergang der DDR und die vielen, heute z.T. enttäuschten Hoffnungen auf eine kreative Erneuerung von innen heraus.
Allegro Pastell portraitiert besonders am (nicht repräsentativen) Beispiel von Jerome (Web-Designer) und Tanja (erfolgreiche Schriftstellerin) die heute 30-35-Jährigen, die anders als die Protagonisten von Timm und Seiler keinen klar definierbaren äußeren Feind (u.a. Nazis, Springer-Presse in der Bundesrepublik, SED und Stasi in der DDR) mehr bekämpfen, sich dafür stark am medial von sich vermittelten Bild abarbeiten und als inneren Feind den gesellschaftlichen Druck zur Selbstoptimierung in Schach halten müssen. Wie in den anderen beiden Romanen bilden auch hier Love (häufig unerfüllt), Sex (eher oft erfüllt) und diverse legale und illegale Drogen (sehr oft erfüllt) die Füllmasse für variantenreiches, nicht immer planbares Zusammensein in Berlin und Frankfurt/Main.
Mich überzeugte vor allem Leif Randts Sprache. Mit Humor und Bissigkeit ermöglicht er Brechungen, in denen er einerseits sehr kenntnisreich eine gesellschaftliche Gruppe von innen heraus darstellt, sich gleichzeitig von dieser distanziert und so den Raum für (selbst-) kritische Betrachtung öffnet.
Im Kontext der derzeitigen Pandemie gehört Allegro Pastell zu den Romanen, die uns Lebensentwürfe aus einer in der dargestellten Form nun vergangenen Zeit skizzieren. Somit hat Randt unbeabsichtigt einen Vor-Wende Roman geschrieben, der dem Während-Wende Roman Heißer Sommer und Stern 111 als Nach-Wende Roman folgt.
Günther Sommerschuh