Hannah Budde: Links, rechts
Links, rechts. Links, rechts.
Der goldene Türknauf fühlt sich kalt und glatt in meiner Hand an, als ich ihn zur Seite drehe. Ich höre das leise Klacken des Schlosses als es aufspringt und ziehe die blaugestrichene Tür auf. Das Holz scheint trocken geworden zu sein. Das, was einmal die Farbe des Himmels besessen hat, ist vermutlich einer Schlammfarbe gewichen; die Reste des letzten Anstrichs bröckeln unter meinen Fingern. Ich trete hinaus und spüre, wie sich mir der Geruch von Salz auf die Zunge legt, der Wind vom Strand hinüber weht und so lange mit meinen Haaren spielt, bis sich mir ein kleines Lächeln auf die Lippen stiehlt.
Links, rechts. Links, rechts.
Fünfzehn Schritte geradeaus bis zum Ende der Veranda, dann die beiden morschen Stufen hinunter, die unter meinem Gewicht knarzen, als wollten sie jeden Augenblick nachgeben. Vierzig Schritte und eine leichte Linkskurve bis zu dem kleinen Gatter im Gartenzaun, auf dem ich mich mit Schnitzereien aus meiner Kindheit verewigt habe. Damals wohnte noch dieser Junge mit den dunklen Locken neben uns, die ihm immer so schief ins Gesicht fielen, ohne dass es ihn je kümmerte. Wir haben uns geschworen, Freunde auf ewig zu bleiben und unsere Initialen als Versprechen in die Pforte geritzt. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist, nachdem er mit seiner Familie von hier weggezogen ist. Mit einem leisen Quietschen schiebe ich den offensichtlich verrosteten Riegel zurück, um einen Schritt auf den Gehweg zu machen. Ich drehe mich im Uhrzeigersinn bis mir die Sonne direkt in mein Gesicht scheint und zähle, wie oft meine Füße den Boden berühren.
Eins, zwei, drei, vier.
Links, rechts. Links, rechts.
Ich weiß, dass mir so früh am Morgen noch keiner begegnen kann; die Gasse am Hafen scheint bis auf den Bäcker in der kleinen Konditorei an der Ecke noch zu schlafen. Als ich an ihr vorbeikomme, steigt mir der Duft der Blaubeermuffins in die Nase, mit denen ich hier großgeworden bin. Ich erinnere mich, wie der Teig in meinem Mund zerlaufen ist und wie süß die Beeren auf meiner Zunge geschmeckt haben. Ich höre die Angeln des alten Holzschilds am Eingang quietschen, das dort immer schon gehangen hat und auf dem seit Jahren mit gelber Kreide in verschnörkelten Buchstaben Kaffee und Kuchen für 3,50 € angepriesen werden. Als ich am Schaufenster vorbeigehe, halte ich meinen Kopf stur geradeaus gerichtet und versuche krampfhaft, mich nicht zu verzählen. Früher habe ich den Kopf gedreht, um einen Blick auf die Reflexion meines Spiegelbildes zu erhaschen. Heute wende ich mich der Scheibe nicht mehr zu. Ich weiß, täte ich es, würden sich meine grünen Augen und mein mit Sommersprossen besetztes Gesicht dort spiegeln; volle Lippen würden mir das Lächeln zeigen, das ich in den letzten Jahren verlernt habe. Die Leute haben mir oft gesagt, wie hübsch sie mich finden, aber ich habe mich immer an meinen aschblonden Haaren gestört mit ihrer undefinierbaren Farbe, die wirkten als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie blond oder braun sein wollten. Wie dumm ich damals war.
Links, rechts. Links, rechts.
Das Quietschen des Holzschilds entfernt sich langsam; bis es gänzlich verschwunden ist, habe ich dreißig weitere Schritte gemacht. An dieser Stelle macht die Straße eine Biegung, früher saß ich hier am Hafen oft bis spät in die Nacht hinein mit meinen Freunden und habe der Sonne beim Untergehen zugeguckt. Dieser eine Abend hat sich damals irgendwie in meinem Kopf festgebrannt. Meine Freunde, wie sie am Geländer der Promenade lehnten,
die Nasen in den Wind hielten. Es war dunkel, aber die Lichter des Hafens erleuchteten unsere Gesichter. Es war nicht hell genug, als dass jemand die vom Wein erröteten Wangen hätte sehen können. Ich saß auf der Lehne der Steinbank, die dort heute noch steht, die Hände in der Tasche, den Wind im Rücken und blinzelte sie an. Schon schade, dass manche Augenblicke nicht wiederkommen, dass manche Wege sich trennen und dass das Leben immer seine eigenen Geschichten schreibt. Nicht, dass ich damals wirklich glaubte, ich könnte es besser schreiben, aber ein Wort mitreden zu können, wäre schön gewesen. Ich stand auf und stellte mich neben meine Freunde. Wir guckten auf die Wellen, die immer Teil unseres Zuhauses waren. Eigentlich hätte in diesem Moment einer von ihnen fragen müssen, ob wir uns wohl in ein paar Jahren hier wieder treffen würden und immer noch dieselben wären. Und dann hätten wir betrunken „ja“ sagen und uns in die Arme fallen und lachen müssen. Aber wir hatten damals schon vom Leben gelernt und deshalb hallte unser Schweigen die Hafenmauern hinunter. Ich spüre die Kante des Bürgersteigs unter meinen Sandalen, drehe meinen Kopf aus alter Gewohnheit nach links, nach rechts und wieder links bevor ich einen Schritt auf die Straße mache; vermutlich gibt es Dinge im Leben, die man nicht abzulegen
vermag. Auf der anderen Straßenseite wende ich mich nach rechts und beginne ein letztes Mal bis 120 zu zählen, bis die asphaltierte Straße in einen Trampelpfad mündet.
Links, rechts. Links, rechts.
Ich merke, wie meine Füße beginnen einzusinken und sich der feste Boden verändert. Der Wind zerrt stärker an meinen Haaren. Hier war immer die schönste Stelle des Weges; der Moment, in dem man hinter der Biegung das Meer sieht, das um diese Zeit in der Morgensonne schimmert. Hier habe ich immer verstanden, wie unwichtig meine Probleme sind. Ich streife meine alten Riemensandalen von den Füßen und versenke meine Zehen einen nach dem anderen im feinkörnigen Sand, bis ich die Kälte der Erde darunter spüre. Früher habe ich mir meine Fußnägel im Sommer in den unterschiedlichsten Farben lackiert. Hellblau wie das Meer an einem wolkenlosen Tag, pink wie die Erdbeerkugeln von dem Eisverkäufer, der immer auf der Promenade steht,
rot wie die Kirschen, die auf dem Wochenmarkt im Frühherbst verkauft werden. Heute lackiere ich sie mir nicht mehr, ich würde nicht mehr beurteilen können, ob das wirklich noch zu mir passt.
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Endlich höre ich auf zu zählen, setze einfach nur einen Fuß vor den anderen, ohne darüber nachdenken zu müssen und folge dem Rauschen der Brandung. Ich genieße das Gefühl, alleine mit mir und dem Meer zu sein und verlangsame meine Schritte bis die ersten kleinen Wellen über meine Füße schwappen. Das Wasser ist noch eiskalt, ich merke, wie mir eine Gänsehaut die nackten Waden hinaufkriecht. Aus einem Reflex heraus senke ich meinen Kopf in Richtung der Wasseroberfläche, so wie ich es früher immer gemacht habe. Eigentlich müsste sich jetzt mein Spiegelbild unter mir abzeichnen, stattdessen hat meine Welt dieselbe merkwürdige Farbe, wie wenn man die Augen im Tageslicht schließt. Es ist nicht richtig schwarz, noch nicht mal grau. Ein Hauch von orangener Wärme durchschimmert das, was man sonst hätte dunkel nennen können. So stehe ich da und genieße die wunderschöne Aussicht, die ich mir im Laufe meines Lebens so lange eingeprägt habe, wie ich konnte. Ich erinnere mich, wie ich mit dem Nachbarjungen im strömenden Regen in gelben Ponchos am Strand gesessen habe und hier Stunden verbracht habe, um nachzudenken. Wie ich anfing, diesen Ort als ein Zuhause zu sehen. Ich fühlte mich sicher; hier, wo wir uns am Lagerfeuer das erste Mal betranken, belogen und verliebten. Meine Mutter hat immer gesagt, dass das Meer zwar nicht die Antwort ist, aber dass es einen die Fragen vergessen lässt. Deshalb stehe ich hier immer noch mit den Füßen in
den Wellen, ohne dass mir etwas anderes geblieben ist, als das Vertrauen darin, dass sich diese Aussicht immer lohnen wird. Mit einem Seufzer drehe ich mich um, wate die Schritte zum Ufer zurück und setze mich mit dem Gesicht in Richtung Horizont in den Sand. Irgendwann mischen sich in das beständige Rauschen der Wellen die zügigen, schweren Schritte eines durch den Sand laufenden Joggers, der sich mir nähert. „Was für eine schöne Aussicht, nicht wahr?“, ruft er mir zu. Für einen Moment stockt mir der Atem und mich überrollen meine Emotionen. Ein Gefühl zwischen Wut und Enttäuschung gemischt mit Sehnsucht trifft mich und nimmt mir für einen Augenblick meine Sicherheit. Dann drehe ich langsam meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Ja, das ist sie“, flüstere ich in den Wind. „Wunderschön sogar“. Ich streiche mit der Hand durch den Sand neben mir, bis meine Finger meinen Blindenstock ertasten und stehe auf. Ich wende dem Meer den Rücken zu und mache einen Schritt vorwärts. Während ich den Stock von links nach rechts bewege, muss ich lächeln. Früher, als ich mich noch auf mein Augenlicht verlassen habe, habe ich das nicht wahrgenommen, aber wenn man dem Meer genau zuhört, dann flüstert es einem mit jeder Brandungswelle zu, dass alles gut werden wird; und hier und jetzt, da glaube ich ihm.
Links, rechts. Links, rechts.