Preisträger 2018

Lasse Huber-Saffer – 3 Preis

Druckausgleich

Routiniert rücke ich meinen grauen, trüben Anzug zurecht, so wie ich es immer schon getan habe. Mit eiligen Schritten verlasse ich den Wohnblock, der monotonen Gesellschaft entgegen. Alles in dieser Stadt ist in einem quadratischen Raster angelegt, immer abwechselnd Häuser aus purem Beton, dann eine rechteckige Straße mit zwei Spuren. Mich ständig rechts haltend reihe ich mich in den Menschenfluss ein, der sich vor mir ausbreitet. Gemeinsam schreiten wir alle voran, im Gleichschritt vorbei an einigen Wachen. Sie stehen dort – still in ihren weißen, schnittigen Rüstungen, der Takt unserer Fußschritte schlägt stets in ihren Herzen. Ihre Helme – schwarz verglast – stehen in absolutem Kontrast zu der sonst sehr hell gehaltenen Uniform. Im Vorbeigehen wage ich es, einen von ihnen zu betrachten. Seine schlichte, aber dennoch gefährlich aussehende Uniform ist das Bollwerk, welches die Außenwelt davon abhält, in seine Emotionen zu spähen. Noch nie habe ich gesehen, was sich hinter einem solchen Helm verbirgt, innerlich hoffe ich dennoch, dass es wenigstens ein Mensch ist.
Hastig laufe ich weiter, denn inzwischen hatte ich ein wenig den Anschluss verloren. Nun teilt sich das Meer an Personen gekonnt in zweierlei Gruppen auf: Die Einen folgen der Straße geradeaus in Richtung weiterer Betonwürfel. Diese beinhalten wohl deren Arbeitsstellen. Meine Gruppe hingegen biegt nach rechts zum Motorenwerk ab. Alle Arbeiter versammeln sich augenblicklich auf dem gigantischen quadratischen Platz. Nun, da wir alle zum Stehen gekommen sind, höre ich rein gar nichts mehr. Keinen Schritt, keine Streitigkeiten und auch kein Gerede, denn geredet wird sowieso nie. Niemand rührt sich, aber alle schauen wie jeden Morgen auf die Werksuhr.
Pünktlich als der Zeiger auf 9 Uhr vormittags schwingt, ertönt der allmorgendliche Signalton. Nach einem so langen Moment der Stille tut das Geräusch beinahe in den Ohren weh, so laut wie es an den Betonwänden widerhallt. Nun ertönt feierlich unsere Nationalhymne, die alle Arbeiter unseres Landes daran erinnern soll, weshalb sie hier sind. Nach all den Jahren der Gefangenschaft habe ich allerdings, wie viele der jungen Männer hier, keine so große Überzeugung von der Qualität unserer Gesellschaft, aber als eingeborene Mitglieder der Arbeiterschicht des Landes müssen wir, das heißt alle Männer zwischen 16 und 35 Jahren, jeden Tag aufs Neue aufstehen und das tun, was uns vorgeschrieben wird. Selbstbestimmung gibt es hier so gut wie nie, alles was ich in meinem Leben je gekannt habe und kennen werde, wurde mir in meiner Jugend von meinen Mentoren beigebracht, die einzigen Menschen außerhalb meiner Familie mit denen ich jemals reden durfte. Aber sie wirkten nur indirekte Propaganda auf mich aus, um mich loyaler und gutgläubiger zu machen. Während die meisten anderen gezwungen patriotisch ihre Hand aufs Herz legten, ließ ich meine trotzdem unten. Ich persönlich fand die Nationalhymne generell immer schon ein wenig unharmonisch. Und ich muss es ja wissen, bevor ich nämlich mit fast 16 Jahren meiner Familie entrissen wurde und zur Arbeit hierhergebracht wurde, habe ich meine Kindheit damals schon sinnvoll genutzt, und mir selber das Klavierspielen anhand eines kleinen Buches mit Grundtechniken beigebracht. Seither also liegt dieser inoffizielle Lebensratgeber, der mich stets begleitet hat, in meiner Wohnung und hilft mir in schlechten Zeiten. Dieses Buch über Musik wirkt Wunder in einem Land, in dem man nicht einmal mit fremden Leuten reden darf.
Endlich spielen die finalen Töne der Hymne. Schnell nehmen alle Arbeiter ihre Hände wieder herunter und wir schauen in Richtung der Türen des Motorenwerks. Unser Firmenchef, ein alter, aber sympathischer Mann, winkt alle Arbeiter herein. Vier Soldaten bewachen ihn derweil.
In der Fabrik gehen alle Personen sortiert an ihren immer gleichen Platz am Fließband, etwas Eintönigeres kann man sich kaum vorstellen. Meine Aufgabe ist es, seit knapp acht Jahren, in jeden der Motoren einen Öldruckausgleicher zu integrieren. Öldruckausgleicher sind wunderbare Geräte. Ihre längliche und handliche Form macht sie sehr praktisch und portabel. Wenn ich einen von ihnen in den Motor einbaue, muss ich zuerst einen langen dünnen Metallstift in ein Loch in der Hülle des Motors einführen, welches den Auslöser innerhalb des Motors mit dem Auslöser an dem Öldruckausgleicher verbindet, damit dieser korrekt funktioniert. Darauffolgend muss ich nur noch zwei Plastikschläuche anschließen und ich bin fertig. Ziemlich einfach und träge der Job, aber immerhin nicht gefährlich.
Vor einer Weile ist mir allerdings etwas sehr Interessantes aufgefallen, als ich einmal aus Versehen einen Öldruckausgleicher in der Tasche meines heruntergekommenen Anzuges liegengelassen hatte und ich diesen mit nach Hause nahm. Dort entdeckte ich, dass Öldruckausgleicher, wenn sie einfach nur so in der Hand betätigt werden, einen trockenen, trompetenartigen Ton ausstoßen. Dieses Phänomen liegt wohl daran, dass der Apparat in diesem Fall ohne Schläuche mit der Umgebungsluft statt mit Öl innerhalb des Motors pumpt. Seit dieser äußerst interessanten Entdeckung lasse ich immer wieder den einen oder anderen Öldruckausgleicher verschwinden und bringe ihn nach Hause. Maximal einen gleichzeitig, versteht sich. In meinem unbenutzten Schrank in meiner kleinen Wohnung häufen sich diese Dinger deswegen in letzter Zeit. Ich plane nämlich etwas Großes, und es ist fast vollendet. Erpicht auf das, was mich heute nach der Arbeit zuhause an Bastelei erwartet, mache ich mich an die Arbeit. Sind sie nicht wunderbar, diese kleinen Maschinchen?
Nach zehn Stunden aufwendiger Fließbandarbeit begebe ich mich zusammen mit allen anderen auf den Rückweg. Da meine Taschen voll mit geklautem Werkzeug sind, fällt es mir schwer, mit den Anderen Schritt zu halten. Als wir schließlich an den Wachsoldaten des heutigen Abends vorbeilaufen, sieht einer von ihnen mich verdächtig genau an. Ich marschiere einfach geradlinig nach Hause, wie ich es immer tue, nur lege ich dabei die Hände auf meine Taschen, damit keines meiner wertvollen Werkzeuge herausfällt. Zuhause angekommen eile ich die Treppen hinauf und beginne sofort zu schrauben. Heute werde ich endlich meinen großen Traum fertigstellen. Ein eigenes Musikinstrument. Ich bin in dem einzigen Raum angekommen, der mir Privatsphäre bietet. Einige Freudentränen entweichen meinen Augen, während ich aus einigen Metallteilen, die ich bereits vor Monaten mitgenommen habe, einen groben Rahmen für das Instrument zusammensetze. Jetzt fehlen nur noch die runden, knopfförmigen Tasten, mit denen ich die Öldruckwechsler betätige und dann sollte es funktionieren. Ich schneide nun noch einige Metallrohre zurecht, die wie kleine Orgelpfeifen den Klang erzeugen werden. Ich schließe die Augen, harre einen Moment aus und öffne sie dann wieder. Vor mir sehe ich etwas, was ich mir nie hätte vorstellen können, doch irgendwie habe ich es nun geschafft. Ich lege meine Finger auf die kalten, metallischen Tasten, die mir nun vorkommen als wären sie aus purem Gold.
Wie ein Kind, welches zum ersten Mal auf einem Klavier herumdrückt, versuche ich, auf meiner Maschine etwas Harmonisches zustande zu bringen, irgendwie mein Gelerntes anzuwenden. Ich habe es geschafft der Stille zu entfliehen.