Preisträger 2018

Karina Buozys – 2. Preis

Tanz mit dem Teufel

Sie tanzt. Die Musik klingt langsam an, die zarte Melodie hüpft freudig erregt, als würde sie ihrem Liebsten in die Arme springen wollen, aber sie muss sich noch etwas gedulden, bevor es so weit sein kann. Sie steht mit geschlossenen Augen in der Mitte der Bühne und wartet auf ihren Einsatz. Nach dem zwölftaktigen Vorspiel hebt sie vorsichtig und elegant die Arme, erst den rechten, dann den linken, bis sie auf Schulterhöhe sind. Sie steht in der dritten Position, linker Fuß hinten, rechter Fuß vorne, wie ein „T“ angeordnet. Sie zieht ihr rechtes Bein an ihrem linken hoch, das Knie zur Seite ausgerichtet und streckt das Bein, zieht es so weit, bis es fast an ihrem Ohr ist und geht mit dem linken auf die Spitze. Das ist ihre Anfangspose, es kommt den Zuschauern nahezu unpassend vor, wie sie sich langsam in diese Pose bringt, scheinbar weit weg von der Musik. Aber nun passt sie sich der Musik an, sie fängt an nach rechts zu laufen, sie springt hoch, sie dreht sich, sie läuft, aufgeregt wie die Musik, weil sie auf ihren Liebsten wartet. Jede ihrer Bewegungen geprägt von einer unglaublichen Anmut. Sie tanzt, wie sie es nie auch nur zu träumen gewagt hätte. Auf einer großen Bühne, mit tausenden von Zuschauern, die gebannt jedem Schritt, jeder Drehung, jedem Sprung folgen. Doch langsam verändert sich die Stimmung, die freudige Erregung in der Musik weicht einer nervösen brüchigen Unsicherheit, ihr Geliebter lässt sie wohl warten, gefolgt von dramatischen, lauten Tönen, die, wie Donner klingend, das Publikum schaudern lassen. Plötzlich wird der Tänzerin schwarz vor Augen.
Blind. Als hätte man ihr die Augen verbunden, ohne dass sie es gemerkt hat. Sie läuft zögernd durch große leere Räume, die sich fremd anfühlen. Sie spürt eine unheimliche Dunkelheit. Da… Eine Tür. Die Tänzerin läuft auf sie zu, ohne genau zu wissen, was sie erwartet, doch die Tür verschwindet. Auf der anderen Seite nimmt sie Licht wahr, es wirkt, als würden Engel nach ihr rufen. Allerdings kommt ihr das ein wenig sonderbar vor, das kann ja nicht sein, aber trotzdem versucht sie, sich in die Richtung zu bewegen. Doch etwas hält sie davon ab, hinzugehen. Sie spürt eine Berührung, obwohl doch scheinbar niemand hier ist. Zumindest dachte sie das. Sie sieht aber nichts, fühlt sich unsicher, fragt sich, wo sie hier ist, gerade noch auf der Bühne und jetzt hier im Nichts? Es ist ihr ein Rätsel, völlig unverständlich, was gerade passiert ist. Die Person, die mit ihr hier sein muss, ist wieder verschwunden und das Licht scheint ebenfalls wieder erloschen. Wo soll sie hin? Was tut sie hier?
Plötzlich sieht sie wieder, es bleibt dunkel, aber sie erkennt die Silhouetten von Türen, riesige alte Türen und Statuen von komischen Kreaturen, die sie nicht genau identifizieren kann, und eine Treppe, eine riesige, ewig lang scheinende Treppe aus dunklem Marmor, wie auch der Rest des Raums, die mit hübsch ausgeschmücktem schnörkeligem Geländer immer weiter nach oben führt, immer tiefer ins Nichts. Palastartig. Riesig. Beeindruckend. Aber düster. Eine eigenartige, unbeschreiblich schwermütige Aura nimmt den Raum ein. Es wird heller, nicht viel, gerade einmal so viel, dass die Schattenrisse deutlicher werden, sie kann fast Farben erkennen. Irgendetwas macht sie unruhig, sie hört Stimmen, Schreien. Es macht sie unruhig, aber nicht ängstlich, sie hat keine Angst. Sie ist neugierig, schaut sich den eindrucksvollen Raum genauer an. Saugt jedes Detail in sich auf. Sie bewegt sich in Richtung der Treppe, versucht hochzulaufen. Sie läuft und läuft eine Zeit lang weiter, bis sie merkt, dass sie gar nicht vorankommt. Sie läuft, mal schneller, mal langsamer, aber sie bewegt sich nur um die selben drei Stufen. Sie gibt auf, weil sie merkt, dass etwas, viel mehr jemand, sie immer wieder herunterzieht. Langsam, ganz langsam dreht sie sich um, weil sie nicht sicher ist, was sie erwartet. Sie erkennt ihn nicht, als sie sich zu ihm dreht. Denkt nach, sucht in ihrem Kopf nach Antworten, die sich nicht finden lassen. Was sie sieht, ist wunderschön. Er ist schön. Zu schön, um real zu sein. Ein Blick in seine pechschwarzen Augen reicht. Sein hartes Gesicht, die markanten Wangenknochen, volle rote Lippen. Und seine Haare… Eigentlich zu lang für ihren Geschmack, aber diese dunklen zarten Locken… Sie kann nicht glauben, dass ein Mann so schön sein kann. Sie hört leise Stimmen rufen, dass sie weglaufen soll, fliehen vor dem Teufel, solange sie noch kann, solange er sie nicht in seinen Bann gezogen hat. Sie versteht nicht, oder viel mehr, sie will nicht verstehen. Sie ist gefesselt von diesen tiefschwarzen Augen. Es fühlt sich an, als würden Jahre vergehen, die sie einfach so dasteht und sich in seinen Augen verliert. Sie vergisst zu atmen, bis ihr die Luft ausgeht. Er lacht kurz auf. Das schönste, was sie je gehört hat. Er nimmt zärtlich ihren linken Arm mit seiner linken Hand und legt ihn sich auf die Schulter, ihre rechte Hand nimmt er in seine linke und seine rechte Hand platziert er auf dem unteren Teil ihres Schulterblatts. Ehe sie sich versieht, zieht er sie mit sich, dreht sie, führt sie, tanzt mit ihr. Und sie lässt es zu, kann die Augen nicht von ihm lassen. Der Tanz ist stille Poesie. Es fühlt sich an, als hätte sie ihr Leben lang etwas verpasst, dieser Moment gibt ihr so viel mehr, als sie sich je zu wünschen gewagt hat. In diesem Augenblick fühlt sie sich verstanden, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Sie versteht nicht, warum man sie davon abhalten will. „Wenn das die Hölle ist, will ich nirgends sonst sein.“, denkt sie bei sich. Sie weiß, mit wem sie tanzt, sie wusste irgendwo tief in ihrem Innern schon die ganze Zeit, bei wem sie ist. Sie weiß es und es stört sie nicht. Sie will sich verlieren in den Hallen des Todes, will in den Armen des Teufels glücklich werden und wenn es sein muss auch sterben. Wie man so schön sagt, der Teufel kommt nicht im roten Gewand und mit spitzen Hörnern. Er erscheint uns als das, was wir uns am sehnlichsten wünschen…