Preisträger 2018

Laurin Lenschow – 3. Preis

Freiheit

Ein Windhauch streicht über die Dünen der Wüste und tilgt die Fußspuren der beiden Männer vom jetzt wieder unversehrten Antlitz des Sandes. Die Sonne brennt heiß und strafend vom unendlichen Blau des wolkenlosen Himmels herab. Der Wächter geht voran, den Kopf erhoben, hinter ihm der Gefangene, die Hände mit einem rauen Strick zusammengebunden, die wundgescheuerten Handgelenke kraftlos herabhängend. Seine Füße kann er frei bewegen, doch sein Wächter schenkt ihm nicht einen Blick.
„Du bist ein Feigling.“, sagt der Gefangene, ohne den Kopf zu heben. Der Wächter schweigt. Es entsteht eine Pause. Der Andere versucht es nochmal: „Du willst sein wie ich, deshalb nimmst du mich mit dir.“
Der Wächter setzt still einen Fuß vor den anderen, geht beharrlich voran. Sein Begleiter tritt genau in die Abdrücke, zurück bleibt nur ein einziges Paar Fußspuren, das nach kurzer Zeit wieder vom Wind verwischt wird, sodass nichts mehr von seiner Existenz zeugt. Darum ist er hierhergekommen, der Mann ohne Fesseln. Er hatte gehofft, den Anderen wenigstens für die Zeit der Reise loszuwerden. Vielleicht für immer. Aber er hat sich getäuscht. Der altbekannte Fremde ist schon zu lange bei ihm, er kann ihm nicht entfliehen. In solcherlei Gedanken versunken setzt der Wächter seine Reise fort, der Gefangene folgt ihm wie sein Schatten. Die Sonne rollt mit der langsamen Erhabenheit eines schwindenden Giganten dem Horizont entgegen und der neunte Tag verlischt.
Der Mann ohne Fesseln erwacht und sie ziehen weiter. Als sie den höchsten Punkt einer Düne erreichen, kommt eine Gestalt in Sicht, die sich nur langsam vorwärts bewegt. Sie trägt das klassische Gewand eines Beduinen, ein weißes Tuch, das fast den ganzen Körper verhüllt. Die Spuren seiner Füße werden von den Abdrücken, eines alten, knorrigen Wanderstabes ergänzt. Der Wächter nimmt seinem Gefangenen schweigend die Fesseln ab und lässt sich selbst die Hände zusammenbinden. Bald darauf holen sie den Wanderer ein.
„Sei gegrüßt.“, spricht ihn der von den beiden an, der nun keine Fesseln mehr trägt. „Sei mir ebenso gegrüßt.“, erwidert der Mann, ohne ihnen den Kopf zuzuwenden, mit einer rauen, trockenen Stimme, die klingt, als wäre ihr Besitzer schon sehr alt. Auch von nahem ist kein Flecken Haut zu sehen, selbst die Augen des Wanderers werden vom Stoff beschattet. Da er ihnen jedoch weiterhin nicht das Antlitz zuwendet, sind auch sie kaum zu erkennen.
„Was ist das Ziel deiner Reise?“, fragt ihn der neue Wächter.
„Die Freiheit, mein Freund.“
„Die Freiheit wovon?“
„Von dem Zwang, sich anzupassen. Ich gehe durch die Wüste und bin ganz allein dabei. Und ich kann einfach ich sein. Ich gehe durch die Wüste, um niemals anzukommen, denn ich habe mein Ziel schon erreicht. Völlige Freiheit, Freiheit durch Einsamkeit.“
„Aber jetzt gerade redest du mit mir. Du bist nicht einsam. Macht dich das unfrei?“, wendet der neue Wächter ein.
„Das tut es, und deswegen werden sich jetzt unsere Wege trennen. Lebe wohl, und mögest du finden, was immer du suchst.“ Mit diesen Worten ändert der Wanderer seine Richtung. Als er im Tal hinter der nächsten Düne verschwindet, nimmt der neue Wächter seinem Gefangenen die Fesseln ab und lässt sie sich wieder selbst anlegen. Schweigend gehen sie weiter bis es Nacht wird.
Als der Ungebundene erwacht, klingt in ihm ein leises Sehnen nach jener Freiheit an, die er jedes Mal verliert, wenn er nach dem Schlaf die Augen aufschlägt. Seltsam, es hat sich angefühlt, als sei er allein gewesen, als er schlief. Er richtet sich auf und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Keine zwei Schritt von ihm entfernt sitzt der Gefangene, starrt mit finsterem Blick hinab auf seine Fesseln.
Sie setzen ihren Weg fort. Den ganzen Tag über schweigt der Gefesselte, sodass der Wächter ihn fast vergisst. Als es Abend wird, wirft er einen Blick über die Schulter und zuckt zusammen. Er ist immer noch da – direkt hinter ihm. Als würde dieser den Blick spüren, der auf ihm lastet, hebt er kurz den sonst hängenden Kopf und wirft dem Vorderen ein hämisches Grinsen zu. Ich bin noch da, scheint es sagen zu wollen. Ich werde immer da sein, bis an dein Lebensende. Wie von einem plötzlichen Drang gepackt, rennt der Wächter los, immer weiter und weiter. Sein keuchender Atem verliert sich ungehört in den Weiten des unendlichen Sandmeeres. Vielleicht kann ich ihm entkommen, denkt er, und ein wildes, hysterisches Lachen entringt sich seiner trockenen Kehle. Wenn ich nur schnell genug laufe, dann wird er vielleicht sterben, hier draußen in der Wüste. In vollem Lauf dreht er sich um – die Fläche hinter ihm ist menschenleer, von seinem Verfolger keine Spur. Vor ihm tut sich nun ein steiler, sandiger Abhang auf. Er sieht es zu spät, tritt ins Leere, fällt, überschlägt sich mehrmals. Am Fuß der Düne angekommen spuckt er Sand aus. Als er den Kopf hebt, legt sich ein rauer Strick um seinen Hals. „Mach mich los,“, zischt ihm der Gefangene von hinten ins Ohr, „binde den Strick auf,sonst töte ich dich.“ Der Wächter kann den heißen, trockenen Atem seines Gegners spüren.
„Ich hasse dich.“, krächzt der Wächter, soweit der Strick das zulässt, der ihm nun zusehends die Luft abschnürt. „Nicht weit von hier in der Oase lagert eine Karawane.“, erwidert der Andere drängend. „Du hast sie auch kurz gesehen bei deinem Sturz, befrei mich. Jetzt!“ Der Wächter gibt auf und bindet ihn los.
Kurze Zeit später erreichen sie die Oase. Einige Kamele sind an Palmen gebunden und trinken aus einem steinernen Becken. Männer haben ein Lagerfeuer entzündet und sitzen grölend und lachend darum herum. Der neue Wächter zieht den nun Gefesselten mit sich und nähert sich dem Feuer. „Kann ich mich zu euch setzen?“, ruft er von weitem.
„Gegen ein geringes Entgelt…“, kommt es unter Gelächter zurück. Der Wächter bleibt verwirrt stehen.
„Ich mach´ doch nur Spaß!“, lacht der Wortführer.„Komm, setz dich zu uns, du kannst etwas von unserem Tee haben.“ Die Männer machen eine Platz am Feuer frei und reichen ihm einen kleine Schale, in der grünlicher Minztee duftet. Der Wortführer der Gruppe, wahrscheinlich der Händler, dessen Waren die Karawane transportiert, lächelt versonnen. Er stützt die Arme hinter sich auf den Boden und lehnt sich zurück, legt den Kopf in den Nacken und betrachtet nachdenklich den Sternenhimmel.
„Diese Reisen durch die Wüste dauern viel zu lange.“, sagt er wie zu sich selbst. „Ich vermisse meine Frau und meinen Sohn.“ Er wendet sich dem Wächter zu. „Bist du verheiratet?“ Der Gefangene will etwas sagen, doch der Wächter schlägt ihm mit brutaler Gewalt gegen den Kehlkopf, sodass er hustend auf den Rücken fällt. Der Karawanenführer scheint davon nichts zu bemerken. „Nein, ich bin nicht verheiratet.“, erklärt der Wächter schlicht, als wäre nichts geschehen. Eine Pause entsteht. Dann erhebt sich der Karawanenführer und holt aus dem Gepäck der Gruppe einen aus dünnen Holzstäben gefertigten Käfig. Mit stolzem Blick kehrt er zurück ans Feuer. Im Käfig sitzt ein kleiner brauner Vogel, der sich mit seinen dunklen Augen müde und irgendwie erschöpft umsieht. „Den habe ich auf dem Markt gekauft, bevor wir aufgebrochen sind.“, erklärt er mit wichtiger Miene. „Ich nehme auf jede meiner Reisen so einen Vogel mit. Bis ich diese Oase erreiche, leisten sie mir Gesellschaft, und dann lasse ich sie frei, immer hier.“
„Es ist edel, einem Geschöpf der Luft die Freiheit zu schenken.“, sagt der Wächter, aber es klingt irgendwie hölzern, man kann hören, dass er nicht versteht, warum der Karawanenführer das tut. Auch der Gefangene versteht es nicht, aber aus einem anderen Grund. Ist ihm nicht klar, dass der Mann, bei dem er die Vögel kauft, sie nur fängt, um mit ihnen Geschäfte zu machen? Würde er sie nicht kaufen, würde der Vogelhändler auch keine weiteren Tiere fangen… Die anderen Männer am Feuer sind inzwischen verstummt. Sie scheinen schon zu wissen, was gleich geschieht, anscheinend begleiten sie ihn nicht zum ersten Mal. Der Karawanenführer sieht sich um und tut so, als würde er auf absolute Stille warten, dabei ist die längst eingekehrt. Dann öffnet er mit großer Geste den Käfig. Der Vogel bleibt in seinem Käfig und betrachtet mit schief gelegtem Kopf scheinbar verwundert einige Zeit die Öffnung. Dann durchläuft ihn ein Zittern, er versucht die Flügel zu spreizen, doch der Käfig ist zu eng. Als das Tier ihn verlässt, fällt es, noch ungläubig ob der neugewonnen Freiheit, fast zu Boden. Im letzten Moment fängt es sich jedoch und flattert, zwar etwas unsicher aber doch zielstrebig, zu einer Palme. Der Vogel lässt sich darauf nieder, um auf die Gruppe herabzublicken, deren Gesichter ihm andächtig gefolgt sind. Die Stille zerbricht, als der Anführer der Karawane seufzt:
„Der Händler hat mir versichert, dass diese Tiere mehrere Jahre alt werden, und ich glaube nicht, dass sie in die Wüste fliehen. Ich verstehe nur nicht, warum mir noch nie einer von ihnen wiederbegegnet ist. Jedes Mal, wenn ich hier bin, ist der Ort verlassen.“ Der Wächter weiß keine Antwort darauf. Bald darauf legen sich die Männer der Karawane auf den Boden, wo auch immer sie gerade sitzen, und fallen in tiefen Schlaf. Als sich kurz darauf auch der Wächter und der Gefangene hinlegen, spürt dieser etwas Spitzes in seiner Seite. Irritiert setzt er sich
wieder auf und sucht den Boden ab. Vogelknochen. Sie können hier nicht leben, wird ihm da klar. Er bringt alle drei Monate einen Vogel hierher – die Einsamkeit bringt sie um!
Er fühlt sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Als er nach einiger Zeit in das Reich der Träume hinübergleitet, schenkt es ihm nicht die Erholung, nach der er sich sehnt:
Er geht wieder neben dem alten Wanderer her, dem er am Tag zuvor begegnet ist, und von seinem Gefangenen, der in der Oase schlafend neben ihm liegt und sich als Wächter aufspielt, ist weit und breit nichts zu sehen. Und der Alte wendet ihm noch immer nicht das Gesicht zu, aber er spricht mit ihm. „Bleib nur lange genug hier draußen, Zerrissener, und dann wirst du sein wie ich. Es gibt dann weder dich, noch den, den du mit dir zu führen glaubst. Doch die Wüste wird dich nicht retten. Hier draußen findest du nur meine Freiheit: Den Tod!“ Und mit diesem
Ausruf sieht er ihn endlich an und ein Windstoß fährt dem Wanderer entgegen und reißt ihm die Tücher vom Haupt und dem Träumenden starrt ein grinsender Totenschädel ins Gesicht und der Wächter ohne den Gefangenen schreit und schreit und schreit. Und da wird die Wüste dunkel, als sich der Leib eines riesigen Vogels vor die Sonne schiebt und als der Vogel landet und seine mächtigen Krallen in den Boden gräbt, spritzt Sand gen Himmel wie eine grausame Nachahmung von Wasser, so wie Einsamkeit ein Zerrbild ist von Freiheit und Freiheit ein Zerrbild von Glück. Und der Mann weicht zurück und strauchelt, fällt auf den Rücken, ist dem Vogel wehrlos ausgeliefert, in dessen pechschwarzen Augen so gar nichts Lebendiges mehr schimmert und er erkennt, dass auf dem Rücken des Vogels sein Gefangener thront, die Fesseln zerrissen, die Wangen gerötet vom Fieber des Übermuts und er verspottet den am Boden Liegenden und als der Kopf des Vogels auf ihn herabstößt, erwacht er endlich.
Jetzt gibt es kein Zögern mehr, keine Flucht, keine Suche nach dem, was er doch schon längst gefunden hat; er weiß jetzt, was er tun muss. Still steigt er über die Körper der Schlafenden, verlässt die Oase, verschwendet keinen Gedanken an den Anderen oder an die Fesseln, die noch immer in seine Handgelenke schneiden. Nach kurzer Zeit holt ihn der Wächter ein, nimmt ihm ohne ein Wort die Fesseln ab und lässt sie sich selbst anlegen. Der Mann, der schon am Anfang der Wächter war, der von Anfang an der Wächter hätte bleiben sollen, hat jetzt wieder die Kontrolle. Als die Sonne aufgeht, läuft er unbeirrt weiter, der Gefangene folgt ihm, tritt in seine Fußspuren, wie er es schon immer getan hat. Als der nächste Abend hereinbricht und der Wächter keine Anstalten macht, langsamer zu werden, beginnt der Gefangene, zu jammern. Der Wächter ignoriert ihn und erhöht sein Tempo noch. Doch etwas ist jetzt anders: Zum ersten Mal, seit er seine Reise begonnen hat, läuft er nicht weg; er läuft auf etwas zu: seine Heimat. Die Sonne hat sich noch nicht über den Horizont erhoben, doch sendet sie bereits ihre ersten Strahlen voraus, bringt die Sterne zum Verblassen und streichelt sanft die Dächer der Stadt, die sich nun vor den beiden Männern erstreckt. Der Anblick schenkt dem Wächter neue Kraft. Er vergisst seine zerschundenen Füße, die ihn ohne Pause durch den ganzen letzten Tag und die Nacht getragen haben. Die bleierne Müdigkeit, die in den letzten Stunden an ihm gezehrt hat, fällt von ihm ab wie eine Decke, wenn man sich eilig aus dem Bett erhebt. Neue Kraft beflügelt ihn, und der Gefangene muss sich bemühen, um mit ihm Schritt zu halten. Sie passieren ungehindert die Stadttore. Um diese Zeit ist noch niemand auf den Straßen. In seiner Eile, sein Haus zu erreichen, sieht der Wächter nicht, wie sich der Gefangene hinter ihm die Hände massiert und die Finger dehnt. Auch seine bösartigen Blicke bemerkt er nicht.
Sie sind da. Sein Haus sieht aus wie eines von vielen, mit seinen schlichten Lehmwänden und den fensterlosen Löchern, die in den Wänden klaffen, aber es ist der schönste Platz auf der Welt, das hat er jetzt verstanden. Er fühlt sich wie ein neuer Mensch, sieht alles mit anderen Augen. Bevor er die Hand nach dem Türriegel ausstreckt, hält er kurz inne, um sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen. Andächtig öffnet er. Drinnen, am Esstisch, sitzt eine Frau – seine Frau. Sie trägt ein schlichtes, helles Leinenkleid, die langen Haare fallen ihr offen über die Schultern. Ihre Augen strahlen, als sie aufblickt. Ihre Blicke treffen sich für einen Moment. „…hast du gefunden, was du gesucht hast?“, fragt sie. Diesen Augenblick nutzt der Gefangene, um von hinten die Hände mit den Fesseln um den Hals des Wächters zu legen und ihm die Luft abzuschneiden. Mit all seiner Kraft reißt er an dem Strick, versucht, ihn so tief in den Hals seines Peinigers zu zwingen wie irgend möglich. Der Wächter legt ruhig seine Hände um die Handgelenke des Angreifers, den auf einmal alle Kraft verlässt, und nimmt sie weg von seinem Hals. Und dann ist der Gefangene fort. Er wird nun nicht mehr gebraucht.
Der Erlöste sieht seiner Frau lange in die Augen. Dann lächelt er.
„Das habe ich.“