Jelis Hoedtke am Literaturtelefon

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Am Literaturtelefon – www.literaturtelefon-online.de – sind die Preisträgerinnen des vom Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. ausgeschriebenen Jungen Literaturpreises S.-H. 2021 zu hören. Jelis Hoedtke beendet den Reigen mit ihrem Text „Der magische Schnuller“, mit dem sie den 3. Platz belegte.

Die Jury lobte den Text wie folgt: „Die Autorin schildert ein Kind, in dessen Seele kränkende Bilder der Umwelt ungeschützt hineinfallen. Wehrlos ist es ausgeliefert. Der Schnuller wird Mittel zum Über-Leben. Nuckeln kann die Welt hinter dem Schnuller ins Gleichgewicht bringen – feinsinnig in der Gute-Nacht-Geschichte des Textes geschildert (…) Jelis Hoedtke gelingt es, den Text doppelbödig aufzuspalten, in krasse Gesellschaftskritik kippen zu lassen.”

Jelis Hoedtke ist in Uetersen im Kreis Pinneberg aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ende 2020 nahm sie ein Studium in Münster auf. Kleinere Geschichten und Gedichte schreibt sie schon, seit sie schreiben gelernt hat, immer mal wieder. Veröffentlicht ist davon bislang noch nichts und auch der Traum von einem Buch steht noch aus …

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Jana Nabea Schwarz am Literaturtelefon

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Am Literaturtelefon – www.literaturtelefon-online.de  – sind die Preisträgerinnen des vom Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. ausgeschriebenen Jungen Literaturpreises S.-H. 2021 zu hören. Jana Nabea Schwarz gewann mit ihrem Text „Elio und Mathilda“ den 2. Preis. Sie liest auf der Website den Text in voller Länge.

Die Jury lobte den Text wie folgt: „Warum unter den vielen ’alten, doch immer neu bleibenden’ Boy-meets-Girl-Geschichten nun noch eine, fragt man sich. Nun, weil es der Autorin gelingt, eine Coming-of-Age-Geschichte von zehn Jahren erzählter Zeit – Stoff für einen ganzen Entwicklungsroman – in einer Erzähl- bzw. Lesezeit von 20 Minuten zu komprimieren. Weil es der Autorin gelingt, große Zeitsprünge zu überwinden, ohne den Faden, den Zusammenhang, noch die Spannung zu verlieren.”

Jana Nabea Schwarz ist 17 Jahre alt und besucht das Gymnasium Glinde in Glinde. „Elio und Mathilda” ist ihr Debüt bei einem Literaturwettbewerb – und im Schreiben von freier Prosa generell, kurz bevor im Herbst 2021 ihr erster Beitrag in einer Anthologie erscheinen wird.

Fun fact: Die Idee zur Geschichte bestand zwar bereits eine ganze Weile, wurde allerdings erst am Vortag der Abgabe niedergeschrieben. Außerdem stand der Schluss der Geschichte vor dem Hauptteil fest.

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Hannah Budde am Literaturtelefon

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Am Literaturtelefon –  www.literaturtelefon-online.de – sind die Preisträgerinnen des vom Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. ausgeschriebenen Jungen Literaturpreises S.-H. 2021 zu hören. Hannah Budde gewann mit ihrem Text „Links – rechts“ den 1. Preis.

Der Titel verweist auf die rhythmischen Bewegungen des Stocks eines blinden Menschen. Die Jury lobte den Text wie folgt: Die Autorin „gestaltet darin ein Gedankenspiel, das vermutlich jeden von uns einmal beschäftigt hat, besonders als Kind oder als Heranwachsenden: die Weltwahrnehmung des erblindeten Menschen (…) Wie wunderbar die vier Sinne sind, die dem Menschen dann bleiben, wie viel Wirklichkeit er durch sie wahrnehmen kann“, habe die Autorin „einfühlsam und nachvollziehbar in ihrem Text gestaltet“.

Hannah Budde wurde 2001 in Koblenz geboren, doch seit sie denken kann, wohnt sie in einem verschlafenen Dorf im hohen Norden Schleswig-Holsteins. Die deutsche Sprache sowie das Erlernen von Fremdsprachen begeisterten sie schon in jungen Jahren und so stand sie nach einem Abitur mit sprachlichem Schwerpunkt vor der Wahl, Journalismus oder Rechtswissenschaften zu studieren. Am Ende überwog der Wunsch, Juristin zu werden. Zwischen all den Paragrafen und wissenschaftlichen Schriftsätzen hat sie sich gleichwohl ihre Passion für das kreative Schreiben erhalten. Bisher schrieb sie ihre Geschichten nur für ihr privates Umfeld sowie für sich selbst. Nun freut sie sich sehr, dass sie im Rahmen des Jungen Literaturpreises Schleswig-Holsteins ihre Liebe zum Schreiben teilen kann.

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5. Junger Literaturpreis – 3. Platzierung

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Jelis Hoedtke: Der magische Schnuller

Als Kind war der Schnuller schon immer mein liebstes Spielzeug gewesen. Wenn meine Familie am Esstisch mal wieder zwischen Schweigen und Gebrüll wechselte, so machte mein Schnulli doch das gleiche rhythmische, beruhigende und schmatzende Geräusch, wenn ich daran saugte. Und wenn meine Eltern, dabei sich anzuschreien, vergaßen, mich am Abend ins Bett zu bringen, so fühlte sich, wenn ich meine Augen schloss, der Schnulli wie ein Gutenachtkuss auf meinem Mund an. Und wenn ich meinen kleinen Finger durch das kleine Loch seines Griffs zwängte, so bildete ich mir ein, zu fühlen, wie sie meinen Finger festhielten.
Als meine Finger größer wurden, passten sie nicht mehr so gut durch das Loch, aber dafür konnte ich mit meinen großen kräftigen Zähnen auf dem Gummiteil herumkauen und mir vorstellen, ich hätte mir wie die anderen Kinder Kaugummi am Kiosk kaufen können.
Mein Schnulli und ich hätten ewig glücklich miteinander leben können, wären nicht andere auf einmal auf die Idee gekommen, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich das Ding loswerden müsse. Es war, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen. Der Zahnarzt sagte, dass der Schuller Fehlstellun-gen von meinen Zähnen verursachen würde. Meine Vorschullehrerin teilte, meinen Eltern am Eltern-sprechtag, nachdem sie einen Blick auf mich mit meinem Lieblingsspielzeug erhalten hatte, ihre Be-sorgnis über mein Ansehen unter anderen Kindern mit.
Schließlich beschlossen meine Eltern, dass er wegmusste. Nicht, dass es ihnen selbst vorher störend aufgefallen wäre. Nicht, dass es sie gestört hätte, hätte ich schiefe Zähne oder keine Freunde gehabt. Denn das war ja sowieso der Fall. Auch ohne Schnuller war ich nicht gut mit anderen Kindern und die schiefen Zähne hatte ich wohl oder übel geerbt und da würde sich auch nichts daran ändern, da meine Eltern kein Geld für eine Zahnspange für mich ausgeben wollten.
Aber was sollten die anderen Leute denn denken? Was sollte die Familie denken? Der Schnuller musste weg! Aber diese Schlacht konnte und wollte ich nicht kampflos aufgeben. Ich behielt meinen Schnulli im Mund, wann immer es ging und wenn nicht, versteckte ich ihn, damit ihn mir keiner würde wegneh-men können.
Das Schlimmste war, wenn Oma und Opa und die Tanten und Onkel zu Besuch kamen. Sie würden sich darüber echauffieren, dass ich immer noch mit so einem Nuckel im Mund herumlaufe und mein Vater würde unglaublich wütend werden. Denn mit seinen zahlreichen Geschwistern stand er seit Kindheits-tagen im Wettbewerb. Während ich das einzige Kind meiner Eltern war, musste ich mit unzähligen Cousinen und Cousins mithalten. Ich war ihr Wunder – wie sie vor anderen immer zu sagen pflegten. Doch in Wahrheit war ich ihr Unfall, der sie zum Heiraten gezwungen hatte. Da mein Vater schon nicht das meiste Geld unter seinen Geschwistern verdiente, weil er seine Ausbildung ja meinetwegen frühzei-tig hatte abbrechen müssen, sollte doch wenigstens seine Familie sein Aushängeschild sein.
Meine Mutter sollte jung und hübsch aussehen und ich sollte doch wenigstens der Beste in Mathe oder der Schnellste im Laufen sein. Deswegen mochten meine Cousinen und Cousins und ich uns auch nicht sonderlich. Wir wurden immer gezwungen, besser als der oder die andere zu sein.
Es war schließlich meine Tante Selma, die auf die Idee kam, mir zu erzählen, sie könne mich mit meinem Schnulli im Mund nicht mehr sehen. Es war, als wir wieder zum Tee bei ihr und Onkel Fritz zu Besuch waren.
Meine Mutter hatte mir widerwillig über die Haare gekämmt und mir mein Sonntagshemd angezogen, damit ich gut für die Familie aussah und Tante Selma annehmen könnte, wir hätten genug Geld, dass ich jeden Tag so ein Hemd anziehen könnte. Ich war traurig darüber, denn das bedeutete, dass ich weder mit den anderen Kindern im Sand spielen noch mit dem Schokoladeneis kleckern können würde, wollte ich nicht „ordentlich etwas erleben“. Meine Mutter selbst hatte sich ihr schickes Blümchenkleid ange-zogen, das gerade eben lang genug war, dass man es noch für anständig hielt und ihre Haare hochge-steckt, wie sie es in jungen Jahren immer gemacht hatte.
Es gab Pfirsichkompott und ich bat Tante Selma um Nachschub, während sich die Erwachsenen über Politik stritten. Ich hatte eine Taktik entwickelt und perfektioniert, wie ich mit Schnulli im Mund essen konnte. Ich schob ihn soweit es ging in den linken Mundwinkel und drückte ihn in meine Backentasche, während der Rest meines Mundes vom Löffel eingenommen wurde. Nach jedem Löffel saugte ich meine Wangentasche ab, um Sabbern zu verhindern. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mir später beim Spielen und Kauen auf meinem Schnulli einbilden, mein Kaugummi hätte Pfirsichgeschmack.
„Es tut mir leid, mit diesem Ding in deinem Mund verstehe ich leider nicht, was du möchtest.“, sagte Tante Selma extra langsam und deutlich mit gespieltem Mitleid. Ich wusste, dass sie log, denn ich konnte mich prima artikulieren und auch heute raten sie jedem Schauspieler, sich einen Korken in den Mund zu schieben, um die Aussprache zu verbessern. Trotzig zeigte ich auf die große Glasschale mit Kompott. „Weißt du, Schätzchen,“, sagte Tante Selma nun extra laut, um die ganze Aufmerksamkeit des Tisches auf sich zu ziehen, „Ich kann dich mit dem Ding in dem Mund noch nicht einmal sehen.“ Ein Raunen zwischen Anerkennung für Tante Selmas Idee und Belustigung ging durch die Runde. Vorsichtig tippte ich an die Schulter meiner Mutter, die rechts von mir saß und flüsterte: „Mama, kannst du mich sehen?“
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie zu sehr von Onkel Fritz abgelenkt war oder daran, dass Tante Selma nun jeden am Tisch dazu gezwungen hatte, bei ihrem Spielchen mitzumachen, aber sie entgegnete nur: „Jetzt nicht.“. Vorsichtig, testweise manövrierte ich meinen Schnulli aus meinem Mund. „Da bist du ja!“, rief Tante Selma und grinste triumphierend in die Runde. Doch ihr Triumph galt nur kurz, denn sie hatte mir gerade die größte Fantasie eines jeden Kindes erfüllt.
Mein Spielzeug war magisch. Mein Schnulli war magisch und ich konnte mich damit unsichtbar ma-chen, wann immer ich wollte. Es war doch egal, wenn der Schnuller mir schiefe Zähne verursachte.
Wenn ich ihn trug, würde mich doch sowieso keiner sehen können. Ich müsste nirgendwo mehr der Schnellste oder der Beste sein. Ich müsste gar nichts sein, wenn ich gar nicht richtig da war.
Wann immer Onkel Fritz mit meinem Vater über Geldanalage stritt und mein Großvater sich darüber beschwerte, die beiden müssten ihm etwas für seine Rente dazugeben, konnte ich einfach verschwinden und in meine eigene Welt abtauchen. Wann immer mein Vater mit mir darüber schimpfen würde, dass ich noch nicht lesen konnte oder meine Mutter sich über meine knittrigen Hosen beschwerte, konnte ich einfach unsichtbar werden. Die wenigen Male, wenn Papa mir hingegen das Fußballspiel würde erklären wollen oder Mama mich zu Fuß von der Schule abholen, mich umarmen und mit mir durch den Park zurückschlendern würde, könnte ich da sein.
Alles wäre perfekt für mich gewesen, wäre mein Schnuller nicht eines Tages kaputt gegangen. Hätte er nicht irgendwie irgendwann eine Delle bekommen, die seine Magie entweichen ließ.
Es war wieder ein Essen bei Tante Selma und Onkel Fritz. Ich lief um den Tisch herum und spielte Räuber, der auf einem Pferd mit seiner Beute entkommt. Niemand beachtete mich, denn ich hatte ja meinen Schnulli im Mund. Normalerweise hätte ich bestimmt nicht so laut sein dürfen und nicht so viel Staub aufwedeln dürfen, aber ich war ja unsichtbar. Normalerweise wäre ich gelangweilt und traurig gewesen, dass niemand mir Aufmerksamkeit schenkt, sondern lieber Tante Annemaries Vortrag über Kindererziehung diskutiert, aber ich war ja in einer anderen Welt.
Und in dieser anderen Welt fiel mir auch nicht auf, dass meine Mutter vom Esstisch verschwunden war und auch Onkel Fritz nicht mehr da war. Stattdessen entschied ich, dass ich jetzt weit genug weg von dem Museum war, aus dem ich die Diamanten geklaut hatte, so dass mich die Polizei nicht mehr einho-len konnte und mein Pferd eine Trink- und ich eine Pipi-Pause verdient hatten. Ich ritt zum Badezimmer und schwang die Tür mit voller Kraft auf.
Sie krachte gegen den Kopf meiner Mutter, deren Kleid nicht mehr auf angemessener Länge hing und deren Zunge mit der Zunge vom oberkörperfreien Onkel Fritz verhakt war. Meine Mutter schrie und ich hörte wie sich Schritte aus dem Wohnzimmer anbahnten, aufgeschreckt von dem Lärm. Ich nuckelte so fest an meinem Schnulli wie ich konnte und betete, dass sein Unsichtbarkeitszauber stark genug für alle wäre oder dass er sogar die Zeit zurückdrehen könnte. Aber statt in einer anderen Welt zu landen, sah ich, wie mein Vater Onkel Fritz ins Gesicht schlug, meine Mutter mit einem „Dumme Schlampe“ be-dachte und aus dem Haus rannte. Tante Selma fing an zu schluchzen wie ein Schlosshund und flüchtete – getröstet von Tante Annemarie und Onkel Walter – ins Wohnzimmer. Ich konnte nicht anders als wie versteinert stehen zu bleiben. Ich spürte wie sich eine warme Pfütze unter mir bildete, da ich immer noch nicht auf die Toilette hatte gehen können. Und jeder konnte sie sehen, obwohl sie hätte unsichtbar sein sollen. „Dummer Junge. Alles deine Schuld.“, zischte Onkel Fritz und eilte an mir vorbei hinter Tante Selma her, nachdem er mir einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hatte. Er hatte mich sehen, mein Schienbein finden und treten können, obwohl ich hätte unsichtbar sein müssen. Meine Mutter
lehnte an der Wand – benommen von der Tür, die gegen ihren Kopf gefallen war und von den Ereignis-sen. Sie sah mich mit erschöpften Augen an. Ich spürte, dass sie mich sah, meine Augen sah, obwohl ich hätte unsichtbar sein sollen. Sie schüttelte den Kopf. Danach sah sie mich nie wieder so an, sah mir nie wieder so in die Augen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich spülte meinen kaputten Schnuller die Toilette hinunter. Ich wollte meine Mutter umarmen, doch sie war steif und drückte mich weg. Mein Schnuller war nicht magisch und es würde auch kein anderer mehr sein. Mein Schnuller hatte mich in dem Moment, in dem ich einfach nur unsichtbar sein wollte, nicht unsichtbar gemacht, aber dafür für den Rest meines Lebens mit einem Unsichtbarkeitszauber am Familientisch verflucht.

5. Junger Literaturpreis – 2. Platzierung

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Jana Nabea Schwarz: Elio und Mathilda

Wir kennen sie alle, die großen Liebesgeschichten. Die einem schon beim Lesen ein Lächeln auf dasGesicht zaubern oder die, bei denen man weinen muss, wenn sie enden. Viele wünschen sich so eine wunderbare Geschichte. Wir suchen nach diesem Glück, nach jemandem mit dem wir unser ganzes Leben teilen wollen oder auch nur einige Momente. Vielleicht ist es jemand, den du eines Tages auf der Straße triffst oder auf der Hochzeit eines Bekannten, vielleicht seid ihr aber auch schon vorher Freunde, wisst alles übereinander und habt doch gar nicht bemerkt, wie eure Freundschaft sich
verändert hat. Die Geschichte von Elio und Mathilda beginnt genau auf diese Weise. Mit einer Liebe, entstanden aus Freundschaft, die über lange Zeit hinweg der wichtigste Teil ihrer Leben war und die, nur ganz vielleicht, irgendwann das Hollywood-Ende bekommt, dass sie verdient. Als ein bunt bemalter VW-Bus über den Marktplatz tuckerte, wusste Mathilda noch nicht, dass dieser Tag ihr Leben verändern sollte. Mit zehn Jahren denkt man nicht so viel über die Zukunft nach, man träumt vielleicht von einem Beruf, einem Ort oder hat einen großen Wunsch. Aber mit zehn Jahren denkst du nicht morgens beim Frühstück darüber nach, jemanden zu treffen, der dein ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Du denkst an deine Freunde, mit denen du am Brunnen zum Spielen verabredet bist und an das Grillen der Feuerwehr am nächsten Wochenende. Und Mathilda tat genau das. Sie dachte an die Scheune ihrer Freundin Klara und den See und dass der Sommer nicht enden würde. Denn wenn du zehn Jahre alt bist, dann geht der Sommer ewig und riecht nach Heu, Seewasser und Bratwürstchen. Und als ein paar Minuten später derselbe Wagen knatternd an der Bushaltestelle vor dem Nachbarhaus zum Stehen kam, ahnte sie nicht im geringsten, dass diese endlosen Sommer in einigen Jahren nur noch als Geschichten existieren würden.
Aus dem Bus kletterte ein Junge, vielleicht ein halben Kopf größer als sie, und trat laut fluchend gegen das Abgasrohr. Der Bus spuckte eine grauschwarze Rauchwolke aus und der Junge fluchte noch ein bisschen mehr. Interessiert beobachtete Mathilda, die neben ihren Eltern und ihrem großen Bruder Tjorven auf dem Gehweg stand, wie ein großer, bärtiger Mann den Motor abstellte und zu dem Jungen trat. Freundlich stellte er sich und seinen Sohn vor. Der Blick des Jungen traf kurz Mathildas, dann drehte er sich um und begann im Kofferraum zu kramen. Er hielt einen Haufen groben Stoffs und Seile hoch: „Und wo soll ich meine Hängematte aufhängen?“ Am gleichen Abend lernte Mathilda beim Grillen, das ihr neuer Nachbar Elio hieß. Elio hatte seine Hängematte zwischen den beiden großen Apfelbäumen in seinem Garten aufgespannt und das Fenster gegenüber von Mathilda bezogen. Nachdem die Erwachsenen sie in ihre jeweiligen Betten schickten, standen sie beide an ihren Fenstern, die Arme auf der Fensterbank aufgestützt und Elio erzählte ihr die Geschichte der mutigen Sternenprinzessin und des unbesiegbaren Drachenfürsten. Er konnte tolle Geschichten erzählen und so bauten
sie eine eigene kleine Welt, bis Mathildas Mutter ihre Tochter weit nach Mitternacht kopfschüttelnd ins Bett steckte. Im Morgengrauen stand Elio dann vor ihrer Haustür und sie nahm ihn mit zum Schwimmen an den See von Klaras Onkel. Die Tage wurden immer länger und wieder kürzer. Am letzten Ferientag schlichen sie sich abends raus und Mathilda zeigte ihm, wie man auf das Flachdach der Bushaltestelle vor seinem Haus klettern konnte. Kichernd saßen sie bis zum Morgengrauen auf dem Dach, ließen die Beine baumeln und träumten von der weiten Welt. Elio wollte überall mal hin, auf die tropischen Inseln und zum großen Eis. Früher waren sein Vater und er von Ort zu Ort gezogen, mal ein Jahr hier, mal ein paar Monate dort. Nun würden sie bleiben. Für immer an einem Ort zu bleiben, erschien ihm unendlich langweilig, wenn es doch so viel zu sehen gab. Mathilda wollte nie für immer weg, denn die blühenden Wiesen und die Gemeinschaft des Dorfes waren eigentlich alles, was sie zum glücklich sein brauchte. Das, und vielleicht einen besten Freund wie Elio.
Der nächste Sommer wurde fast genauso endlos wie der zuvor. Ein Jahr war vergangen und für Mathilda und Elio war es ein Jahr voller Glück, Spaß und Leichtigkeit gewesen. Denn obwohl Elio immer noch Probleme mit dem Hierbleiben hatte, so gab es doch niemand besseren als Mathilda, die ihm zeigte, dass man auch Abenteuer erleben kann ohne durch die Welt zu fahren. Das Dach der Bushaltestelle war zu ihrem Treffpunkt geworden. Solange es warm genug war, saßen sie am Wochenende oft stundenlang dort oben. Manchmal redeten sie gar nicht mehr, sondern saßen nur da während Elio summte und Mathilda aus den Blumen der Wiese unter ihnen Kränze flocht. In diesem Jahr gab es weniger Grillfeste und mehr Tage an Klaras See und dann zog auch noch Klaras Cousin Viktor ins Dorf. Am letzten Ferientag spielten Elio und er mit einigen anderen Jungs Fußball über den ganzen Marktplatz und schossen dabei die Uhr vor dem Rathaus kaputt. Es war dieser Abend, der Mathilda klarmachte, dass sich irgendwann alles ändern würde, denn Elio ließ sie alleine auf dem Dach sitzen und fuhr stattdessen mit Viktor und den Jungen aus Tjorvens Jahrgang zum See. Es war das Ende eines Anfanges.
Im Winter starb Mathildas Großmutter und eine Woche später brach Tjorven im Eis auf dem See ein. An beiden Abenden stand Elio unangekündigt vor ihrer Haustür und sie kletterten auf ihre Bushaltestelle. Da unter den Sternen sitzend, erzählte er ihr wieder eine Geschichte über die Sternenprinzessin und wie ihre Tränen sich zu funkelndem Sternenstaub verwandelten. Es war das erste Mal, dass sie vom Dach aus den Sonnenaufgang sah.
Im Juni danach lehrte sie Elio Blumenkränze zu flechten und er zeigte ihr, wie man Pfannkuchen macht. Mathildas Großvater kam zu Besuch und ihre ganze Familie saß abends mit Elio und seinem Vater in ihrem Garten und grillte. Seit dem Tag, an dem Elio nebenan einzog, waren nun genau zwei Jahre vergangen und Mathilda hätte nicht glücklicher sein können. Egal wie hart der letzte Winter gewesen war, vor ihr lag ein gefühlt endloser Sommer mit ihrer Familie und ihrem besten Freund.
Im Jahr darauf, bevor Mathilda in die achte Klasse kam, wurde ihre kleine Welt ein kleines bisschen größer. Anstelle am ersten Ferientag an den See zu fahren wie in den letzten drei Jahren, standen sie und Elio am Hamburger Flughafen und hörten sich die letzten Ermahnungen und Sorgen von Mathildas Mutter an. Anrufen sollten sie und auch Postkarten schicken. Mathilda hörte ihr schon gar nicht mehr richtig zu, fasziniert betrachtete sie die großen Flugzeuge unten auf dem Rollfeld und die vielen Menschen um sich herum. Im Hintergrund hörte sie Elio ihren Eltern versprechen, dass er auf sie aufpassen würde. Dann ging alles ganz schnell und sie saßen im Flugzeug. Nervös rutschte sie auf ihrem Platz herum während Elio neben ihr sich mit der Stewardess unterhielt. Die Reise war eine Geschenkt von Elios Mutter gewesen, die Elio für zwei Wochen nach Griechenland in ihr neues Haus einlud. Elio hatte darauf bestanden, dass Mathilda mitfahren durfte, was sie sehr gefreut hatte, vor allem weil er in letzter Zeit immer mehr mit den Jungen aus seiner Klasse machte. Er kam, obwohl er nur wenige Wochen älter war, nach dem Sommer schon in die neunte Klasse und oft hatten sie unter der Woche nur wenig Zeit füreinander. Manchmal hatte sie Angst, dass ihre Freundschaft zu sehr darunter litt, doch jetzt, als das Flugzeug endlich abhob und Elio ihre zitternde Hand nahm, war alles genauso, wie es sein sollte. Während der beiden Wochen auf der kleinen griechischen Mittelmeerinsel lernte Mathilda eine neue Seite an Elio kennen. Er hatte seine Mutter jahrelang nicht gesehen und sie stritten sich in den ersten
Tagen viel. Jedes Mal hockte Mathilda dann mit ihm auf der Mauer vor dem Haus und starrte die Sterne an, die hier so anders zu sein schienen als zuhause. In der zweiten Woche wurde es besser und am letzten Abend sah Mathilda Elio das erste Mal weinen, weil er nicht wusste, ob er nach Hause fliegen oder hierbleiben wollte. Bis zum Morgengrauen saßen sie draußen in der milden Nachtluft und Mathilda verstand, dass auch der Drachenfürst nicht so unbesiegbar war, wie er immer schien. Der restliche Sommer bestand aus Rekordtemperaturen und Wasserschlachten während es durchgehend nach Grillfleisch und Staub roch. Kurz vor Ferienende erzählte Klara Mathilda kichernd, dass sie sich zum ersten Mal verliebt hätte und Mathilda verstand nicht, warum es sie irgendwie störte, dass es ausgerechnet Elio war, den Klara mochte. Am letzten Ferientag saßen sie und Elio endlich mal wieder auf ihrem Dach und Mathilda erzählte Elio, dass Klara ihn mochte. Dieser sah sie erstaunt an und zuckte dann mit den Schultern. Viel zu früh wurde dunkel und als sie vor Mathildas Haustür standen, zog Elio ein geflochtenes blaues Armband wie sein eigenes aus seiner Hosentasche. Er band es ihr um und hielt seinen Arm daneben. Stumm lächelten sie sich an und Mathilda wusste, dass sie dieses Armband nie freiwillig abnehmen würde.
Im nächsten Sommer flog Elio wieder nach Griechenland, dieses Mal ohne Mathilda, die stattdessen mit Klara an die Ostsee fuhr. Über die Hälfte des Sommers verbrachten sie getrennt, so lange wie noch nie. Danach konnte Mathilda die komplette Ecke über ihrem Schreibtisch mit Postkarten tapezieren. Sie kam eine Woche eher zurück als er und fuhr mit ihren Eltern in eine große Kunstaustellung. Begeistert begann sie die Landschaft ihres Dorfes zu zeichnen und als Elio mit dem Bus aus Hamburg ankam, saß sie auf dem Dach der Bushaltestelle und bemalte Blumen, die sie auf eine Leinwand kleben wollte. Als sie ihm um den Hals fiel, bekamen sowohl er, als auch sein halbes Gepäck ordentlich Farbe ab. Die letzte Ferienwoche verbrachten sie größtenteils in Elios Garten, er in seiner Hängematte und sie auf dem Boden, umrundet von Farbtöpfen. Ihre langen welligen Haare fielen ihr immer wieder ins Gesicht und wenn sie dann hochschaute, lag Elio da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Abends, wenn die Wolken am Horizont begannen sich rosarot zu färben, liefen sie quer über die Felder und Wiesen bis zur Sandkuhle und hockten sich ans Lagerfeuer. Jeden Abend waren die Leute aus dem Dorf da, einige grillten und meistens brachte irgendwer eine Gitarre oder ein Akkordeon mit. Genauso war es auch am letzten Ferienabend. Mathilda erfuhr es erst Jahre später von ihrem Bruder, aber an diesem Abend schaute Elio sie so an, als wäre sie wirklich die Sternenprinzessin.
Ein Jahr später, am letzten freien Tag vor der zehnten Klasse saß Mathilda nicht auf dem Haltestellendach. Die Sommerferien endeten in diesem Jahr erst im September und Mathilda würde in wenigen Wochen sechzehn werden. Sie lehnte sich aus ihrem Fenster und versuchte im Halbdunkeln die Gestalt auf dem Dach auszumachen, die schon seit Stunden dort saß. Es war Elio und er wartete auf sie. Das Jahr war schnell vergangen, in einem Wirbel aus Geschichten, improvisierten Abendessen in Mathildas Küche und einem Frühling voller warmer Nächte auf dem Dach. Die beiden waren unzertrennlicher denn je. Elios Mutter war zu ihm und seinem Vater gezogen, zunächst über Weihnachten und dann komplett. Diese große Umstellung war ein Grund mehr dafür, dass er viel Zeit bei Mathildas Familie verbrachte. Doch der Sommer hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Es war auch Tjorvens letztes Schuljahr gewesen und auf seiner Abschlussfeier hatte er Elio zu seinem Favoriten als zukünftigen Kapitän der Schulmannschaft ernannt. Während Mathilda also mit dem nahenden Abschied von ihrem Bruder kämpfte, trainierte Elio wie ein Besessener um Kapitän zu werden. Es war das erste Mal, dass er nicht sofort bemerkte, dass es Mathilda schlecht ging. Mathilda verbrachte ihre Zeit daher oft mit ihren anderen Freunden am See und lernte dabei einen Jungen aus dem Nachbardorf kennen. Als sie eines Abends mit Elio auf dem Dach saß, erzählte sie ihm von Jasper und den gemeinsamen Nachmittagen am See. Elio schwieg und verabschiedete sich kurz darauf. Drei Tage später hatte er aus heiterem Himmel verkündet, dass er mit einem Mädchen aus seiner Klasse zusammen sei. Erstaunt hatte sie ihn angestarrt. Elio hatte so gleichgültig geklungen, wie als würde er über das Wetter reden. Mathilda hatte erlebt, wie ihr Bruder das erste Mal von seinem Freund erzählte und es hatte vollkommen anders geklungen. Nicht wie etwas, was man mal nebenbei erwähnt, sondern wie etwas Besonderes. Mathilda hatte stumm gelächelt und nach dem Mädchen gefragt. Während Elio sie kurz beschrieb und dann ohne Mathildas Reaktion abzuwarten das Thema wechselte, versuchte sie das Ziehen in ihrer Magengrube zu ignorieren. Danach hatten sie immer
weniger Zeit zusammen verbracht.
Durch den Sommer hindurch hatte Elio mehrere Freundinnen gehabt, alle ein Jahr älter als sie und aus anderen Dörfern. Jedes Mal, wenn sie ihn mit einem dieser Mädchen sah, versetzte es ihr einen Stich. Wieder war es Jasper, der ihre Traurigkeit an einem Nachmittag am See bemerkte und kurz vor Ende des Sommers waren sie dann zusammen gekommen. Mathilda vermied es, mit Elio über seine wechselnden zu reden, genauso wie Elio alles was im Entferntesten mit Jasper zu tun hatte vermied. Jedes Mal, wenn Elio und sie etwas gemeinsam unternahmen, fehlte die Vertrautheit der letzten Jahre. Es war, als hätten sie nach und nach eine unsichtbare Mauer aufgebaut. Und nun saß er trotzdem auf dem Dach, das erste Mal seit Wochen, und wartete auf sie. Mathilda rang bereits seit zwei Stunden mit sich, ob sie nicht doch hinuntergehen gehen sollte. Sie vermisste ihn und seine Geschichten, die Abende auf dem Bushäusschen und spätabendlichen Fensterbankgespräche. Schließlich saß sie doch auf der Haltestelle neben Elio und sie schauten schweigend der Sonne beim Untergehen zu. Dann hielt er ihr die Hand hin. Sie schlug ein. In dieser Nacht schlossen sie einen stillen Pakt um ihre Freundschaft zu retten: Ihre Freundschaft war wichtiger als alles andere. Es war genau dieser Pakt, der im Winter Mathilda ihren ersten Liebeskummer bescherte. Jasper hatte sich zum Jahreswechsel von ihr getrennt, weil er genau wie alle anderen auch sah, wie alles um Mathilda herum strahlte, wenn sie mit Elio unterwegs war. Nur die beiden selbst sahen es zu dem Zeitpunkt noch nicht, oder wollten es nicht sehen. Elio hatte seine Beziehung am gleichen Tag beendet. Am Silvesterabend saßen die beiden gemeinsam auf ihrem Dach und leerten eine große Flasche ekelhaften Punsch. Es war der Abend, an dem Elio Mathilda beinahe gesagt hätte, was er für sie empfand. Doch obwohl er betrunkener war als jemals zuvor, hatte er nicht den Mut, die Worte auszusprechen.
Im Sommer danach fuhr Mathilda mit einigen Freundinnen nach Marseille in ein Kunstcamp. Die Wochen zuvor hatte sie fast ausschließlich mit Elio verbracht, denn dieser Sommer sollte wieder wie die in ihrer Kindheit werden, grenzenlos und voller kleiner Abenteuer. Parallel dazu liefen die
Vorbereitungen für die Hochzeit von Elios Eltern, die am letzten Wochenende der Sommerferien heiraten wollten. Am Abend vor der Hochzeit stand Elio vor ihrer Haustür, die Augen rot und verquollen. Bestürzt erfuhr Mathilda, dass Elios Mutter wieder in Kontakt zu ihrem Exfreund aus Griechenland stand, mehr noch, wieder eine Beziehung mit ihm angefangen hatte. Während drüben gestritten wurde und Mathildas Eltern im Hintergrund allen Gästen die Absage der Hochzeit mitteilten, schickte Mathilda Elio duschen und machte Pfannkuchen. Draußen begann es wolkenbruchartig zu regnen, was den liebevoll dekorierten Garten nebenan in eine einzige Matschkuhle verwandelte. Weil sie nicht aufs Dach der Bushaltestelle konnten, lagen sie schließlich auf Mathildas Bett und Elio starrte die Wand mit den Postkarten aus Griechenland und Bildern der letzten Jahre an. Mathilda schaute ihn an und erinnerte sich, wie aufgeregt er vor drei Jahren mit dem Brief seiner Mutter in ihre Küche gestürmt war. Elio war immer für sie da gewesen und heute musste sie für ihn da sein, nur wusste sie nicht wie. Denn im Augenblick schlug ihr Herz so laut, dass man es wahrscheinlich bis zu Klaras Hof hören konnte und sie konnte sich nicht länger vorspielen, sie wüsste nicht, was es bedeutete.
Nur wenige Tage später fielen die ersten Blätter und Elios Mutter reiste ab. Er sprach vorher nicht mehr mit ihr und zog erst aus Mathildas Zimmer aus, als seine Mutter im Flugzeug nach Griechenland saß. Weil sie beide jetzt wichtige Prüfungen schrieben, wurde das Dach der Haltestelle an sonnigen Nachmittagen zum Ort für Geschichte, Physik und Mathematik. Gemeinsam brachten sie Elios Vorabitur hinter sich und seinen Vater endlich wieder zum Lächeln. Im Frühling stellte Mathilda einige ihrer Bilder auf einer Vernissage in Hamburg aus und wurde dafür ausgezeichnet. Neben dem
Bildern und Postkarten in ihrem Zimmer landete auch der Flyer für ein Kunstgymnasium in Süddeutschland an ihrer Wand. Ihre Bewerbung im Jahr zuvor war abgelehnt worden, doch als die beiden am Ostersamstag oben auf ihrem Dach saßen, wusste sie plötzlich genau, was sie malen musste.
Es war der erste Ferientag, zumindest für Matilda. Elio hatte wenige Wochen zuvor seinen letzten Schultag gehabt und saß nun neben ihr auf dem Dach. Die Planung für den Sommer lief auf Hochtouren, war es doch der letzte Sommer, den die beiden so gemeinsam in ihrem Dorf verbringen würden. Im nächsten Sommer würde Elio vielleicht auf Reisen sein, Mathilda vielleicht im Ausland. Die letzte Chance auf perfekte Lagerfeuer und lange Tage am See, Pfannkuchen um Mitternacht und Sonnenaufgänge auf ihrem Dach. Vielleicht die letzte Chance, Elio endlich das zu sagen, was sie seit Ewigkeiten vor sich herschob. Nach diesem Sommer würde sich eh alles ändern, warum nicht auch ihre Freundschaft? Doch Mathilda sagte nichts, den ganzen Sommer lang nicht. Zu groß war die Angst, ihre unerschütterliche Freundschaft zu verletzten. Auch Elio sagte nichts, stattdessen tat er alles um zu verdrängen was eh schon alle wussten. Wieso sollte er riskieren sie zu verlieren, wenn er sie zumindest als beste Freundin ein Leben lang an seiner Seite wissen konnte? Lieber genossen sie ihren letzten Sommer in Freiheit und lebten jede Sekunde davon. Die Realität kam plötzlich, wie ein Wolkenbruch.
Der letzte Sommertag fiel unerklärlicherweise auf einen Dienstag, am nächsten Tag würde Mathildas letztes Schuljahr beginnen. In der Post war ein Brief in einem bunten Umschlag mit glänzendem Siegel. Mathildas verspätete Annahme für die Kunstschule. Den ganzen Nachmittag hatte sie Koffer gepackt und dann saß sie neben Elio auf ihrem Bett, während es draußen wie in Strömen goss und man nicht einmal mehr Elios Zimmerfenster sehen konnte. Er las immer wieder ihren Brief, und wenn er am Ende angekommen war hob er den Kopf und lächelte sie traurig an. Mathilda wünschte sich, er
würde etwas sagen, wenigstens versuchen, sie zum Hierbleiben zu überreden. Doch er tat es nicht und Mathilda wusste, dass sie ihm nicht sagen können würde, was sie fühlte. Jahrelang hatte sie gehofft, er würde etwas sagen, so wie die Leute im Dorf es ihr immer prophezeit hatten. Und nun war es vorbei und ein neues Kapitel begann. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens umarmte er sie dann und sie begann zu weinen. So viele Worte hatten sie über all die Jahre gesagt, so viel Liebe, Freude und Leid geteilt und trotzdem schien nichts für diesen Moment auszureichen.
Bei Sonnenaufgang standen sie beide mit Mathildas Eltern und Elios Vater an der Bushaltestelle. Viele andere Nachbarn und Freunde waren auch gekommen. Nachdem Mathilda sich von allen verabschiedet hatte, blieb nur noch Elio übrig. Sie schauten sich an und dann kramte Elio in seiner Hosentasche. Elio zog ein geflochtenes rosa Armband heraus, genauso eines wie er es schon jetzt neben dem alten blauen trug und band es ihr um. Sie übergab ihm den Umschlag mit der Anweisung, ihn erst zu öffnen, wenn sie im Bus saß. Als der Bus neben der Traube Menschen anhielt, drückte er ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und verfluchte sich innerlich dafür, dass er es ihr nicht gesagt hatte. Aber sie hatte sich für eine Schule am anderen Ende des Landes entschieden, ohne mit ihm darüber zu reden, was wohl ein deutliches Zeichen war, dass es nie mehr als Freundschaft werden würde. Als der Bus abgefahren war, kletterte Elio oben aufs Dach und öffnete den Umschlag. Es war Mathildas Bewerbung für die Schule und ein gemaltes Bild. Auf dem Bild waren Mathilda und er auf dem Dach einer Bushaltestelle unter dem Sternenhimmel zusehen. Es war das schönste, was sie jemals gemalt hatte. Auf der Rückseite verabschiedete sie sich von ihm. Sie dankte ihm für die Geschichte und all die Abenteuer. Und sie sagte ihm, dass er für immer ihr bester Freund bleiben würde, für immer der Mensch den sie am meisten liebte.
2124 Tage später, Hamburg
Kalter Wind zog über die Bahnsteige. In der Ferne erklangen leise die Glocken einer Kirche und irgendwo heulten Polizeisirenen auf. Ein junger Mann verließ die ungewöhnlich stille Wandelhalle und blickte sich suchend um. Über den Häusern im Osten war bereits ein erster Streifen der Morgendämmerung zu erkennen. Nach kurzem Überlegen ging der Mann zur Bushaltestelle und musste schmunzeln. Die glatten, dünnen Glaswände und das geschwungene Metalldach waren nicht mit dem Holzbalkenbau zuhause zu vergleichen. Zuhause, dachte er sich, dass ist ein merkwürdiger Begriff. Zuerst hatte es ihm nicht in den Kopf gewollt, sein ganzes Leben an einem Ort zu verbringen und hatte es seinem Vater auch reichlich übel genommen, als sie fest in sein Heimatdorf gezogen waren. Dass sie ihr Nomadenleben aufgaben, war dem elfjährigen Elio einfach nur unnötig und öde erschienen. Während der ersten Wochen und Monaten war es nicht leicht gewesen und selbst nach Jahren hatte er sich manchmal noch wie ein Außenstehender gefühlt. Es gab immer noch eine Vorzeit, eine Zeit in der er noch nicht da gewesen war und die er nur aus Erzählungen kannte. Für Mathilda gab es nur eine Nachzeit, die Zeit nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte. Das ausgerechnet sie, die ihr Zuhause liebte wie keine Zweite und zu der kein anderer Ort auf der Welt besser passen würde, als ein Dorf mit alten Fachwerkhäusern und Wildblumenfeldern, wegging, hätte er nie geglaubt. Es war eigentlich immer klar gewesen, dass er weggehen würde. Abenteuer erleben, Menschen treffen. All das, wovon sie als Kinder geträumt hatten, was sie leise den Sternen
entgegengeflüstert hatten, hatte sich gedreht. Mathilda hatte nie von einem Leben in der Stadt gesprochen, aber als sie überraschend das Stipendium erhielt, packte sie innerhalb weniger Stunden ihre Taschen und stieg in den Bus gen Süden. Elio war wenige Wochen später losgefahren. Er hatte den alten Bulli flottgemacht und war abgehauen. Quer durch Europa, mal ein paar Tage hier, mal eine Woche da. Er hatte sogar seine Mutter und seine Halbschwester in Griechenland besucht. Dann hatte er irgendwo in Südfrankreich Klara wieder getroffen, war ein paar Monate dort geblieben. Er verliebte sich, jedoch nicht komplett. Und als Klara nach Deutschland zurückkehren wollte, brach es ihm nicht einmal das Herz. Sie komplett zu verlieren tat nicht ansatzweise so weh, wie Mathilda davon fahren zu sehen. Jetzt stand er vor einer großen Glastür und betrachtete den kunstvoll verschlungen Namen der Galerie. La Galerie de la Princesse Étoile. Die Galerie der Sternenprinzessin. Mathilda hatte ihre Galerie nach seiner Geschichte benannt, nach der Figur, die sie darin gespielt hatte. Dass er sich die Geschichte bereit wenige Stunden nachdem sie sich kennengelernt hatten ausgedacht hatte, schien ihm heute unwirklich. Elio hatte ihr an dem Abend erzählt, dass er am liebsten wieder wegfahren wollte und sie hatte ihm erzählt wie schön die Sommer in ihrem Dorf waren. Er war der Drachenfürst gewesen unbesiegbar und auf der Suche nach Abenteuern, während sie als Sternenprinzessin mutig für ihre Träume und ihre Zuhause gekämpft hatte. War es wirklich schon so lange her, dass sie Kinder gewesen waren? Waren wirklich schon über drei Jahre vergangen, seitdem Mathilda weggegangen war? Wann hatten sie den Kontakt verloren? Die Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. „Elio?“ „Hey, Mathilda.“
Zwei junge Menschen stehen an einer Bushaltestelle. Sie schauen sich scheu an, wissen beide nicht genau, was sie sagen sollen. Den ganzen Nachmittag sind sie durch die Stadt gelaufen und haben Belanglosigkeiten ausgetauscht. Ja, seinem Vater geht es gut. Nein, sie war Weihnachten auch nicht zuhause, zu viel Arbeit hier. Er erzählt von der Welt und sie redet von den Bildern, die sie diesen Sommer zuhause malen will. Vielleicht käme er ja auch ins Dorf, meint sie scheu. Ja, vielleicht. Er müsse mal wieder Pfannkuchen essen, antwortet er. Und auf Dächer klettern, befindet sie. Das könne man hier in der Stadt viel zu selten. Sie lächeln sich an. Es kribbelt immer noch in Mathildas Magen, wenn sie ihn so grinsen sieht. Sie strahlt immer noch, denkt Elio, wie ein Stern.
Vielleicht sind Sommer nicht nur endlos wenn man noch ein Kind ist, sondern auch wenn man erwachsen wird.

5. Junger Literaturpreis – 1. Platzierung

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Hannah Budde: Links, rechts

Links, rechts. Links, rechts.
Der goldene Türknauf fühlt sich kalt und glatt in meiner Hand an, als ich ihn zur Seite drehe. Ich höre das leise Klacken des Schlosses als es aufspringt und ziehe die blaugestrichene Tür auf. Das Holz scheint trocken geworden zu sein. Das, was einmal die Farbe des Himmels besessen hat, ist vermutlich einer Schlammfarbe gewichen; die Reste des letzten Anstrichs bröckeln unter meinen Fingern. Ich trete hinaus und spüre, wie sich mir der Geruch von Salz auf die Zunge legt, der Wind vom Strand hinüber weht und so lange mit meinen Haaren spielt, bis sich mir ein kleines Lächeln auf die Lippen stiehlt.
Links, rechts. Links, rechts.
Fünfzehn Schritte geradeaus bis zum Ende der Veranda, dann die beiden morschen Stufen hinunter, die unter meinem Gewicht knarzen, als wollten sie jeden Augenblick nachgeben. Vierzig Schritte und eine leichte Linkskurve bis zu dem kleinen Gatter im Gartenzaun, auf dem ich mich mit Schnitzereien aus meiner Kindheit verewigt habe. Damals wohnte noch dieser Junge mit den dunklen Locken neben uns, die ihm immer so schief ins Gesicht fielen, ohne dass es ihn je kümmerte. Wir haben uns geschworen, Freunde auf ewig zu bleiben und unsere Initialen als Versprechen in die Pforte geritzt. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist, nachdem er mit seiner Familie von hier weggezogen ist. Mit einem leisen Quietschen schiebe ich den offensichtlich verrosteten Riegel zurück, um einen Schritt auf den Gehweg zu machen. Ich drehe mich im Uhrzeigersinn bis mir die Sonne direkt in mein Gesicht scheint und zähle, wie oft meine Füße den Boden berühren.
Eins, zwei, drei, vier.
Links, rechts. Links, rechts.
Ich weiß, dass mir so früh am Morgen noch keiner begegnen kann; die Gasse am Hafen scheint bis auf den Bäcker in der kleinen Konditorei an der Ecke noch zu schlafen. Als ich an ihr vorbeikomme, steigt mir der Duft der Blaubeermuffins in die Nase, mit denen ich hier großgeworden bin. Ich erinnere mich, wie der Teig in meinem Mund zerlaufen ist und wie süß die Beeren auf meiner Zunge geschmeckt haben. Ich höre die Angeln des alten Holzschilds am Eingang quietschen, das dort immer schon gehangen hat und auf dem seit Jahren mit gelber Kreide in verschnörkelten Buchstaben Kaffee und Kuchen für 3,50 € angepriesen werden. Als ich am Schaufenster vorbeigehe, halte ich meinen Kopf stur geradeaus gerichtet und versuche krampfhaft, mich nicht zu verzählen. Früher habe ich den Kopf gedreht, um einen Blick auf die Reflexion meines Spiegelbildes zu erhaschen. Heute wende ich mich der Scheibe nicht mehr zu. Ich weiß, täte ich es, würden sich meine grünen Augen und mein mit Sommersprossen besetztes Gesicht dort spiegeln; volle Lippen würden mir das Lächeln zeigen, das ich in den letzten Jahren verlernt habe. Die Leute haben mir oft gesagt, wie hübsch sie mich finden, aber ich habe mich immer an meinen aschblonden Haaren gestört mit ihrer undefinierbaren Farbe, die wirkten als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie blond oder braun sein wollten. Wie dumm ich damals war.
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Das Quietschen des Holzschilds entfernt sich langsam; bis es gänzlich verschwunden ist, habe ich dreißig weitere Schritte gemacht. An dieser Stelle macht die Straße eine Biegung, früher saß ich hier am Hafen oft bis spät in die Nacht hinein mit meinen Freunden und habe der Sonne beim Untergehen zugeguckt. Dieser eine Abend hat sich damals irgendwie in meinem Kopf festgebrannt. Meine Freunde, wie sie am Geländer der Promenade lehnten,
die Nasen in den Wind hielten. Es war dunkel, aber die Lichter des Hafens erleuchteten unsere Gesichter. Es war nicht hell genug, als dass jemand die vom Wein erröteten Wangen hätte sehen können. Ich saß auf der Lehne der Steinbank, die dort heute noch steht, die Hände in der Tasche, den Wind im Rücken und blinzelte sie an. Schon schade, dass manche Augenblicke nicht wiederkommen, dass manche Wege sich trennen und dass das Leben immer seine eigenen Geschichten schreibt. Nicht, dass ich damals wirklich glaubte, ich könnte es besser schreiben, aber ein Wort mitreden zu können, wäre schön gewesen. Ich stand auf und stellte mich neben meine Freunde. Wir guckten auf die Wellen, die immer Teil unseres Zuhauses waren. Eigentlich hätte in diesem Moment einer von ihnen fragen müssen, ob wir uns wohl in ein paar Jahren hier wieder treffen würden und immer noch dieselben wären. Und dann hätten wir betrunken „ja“ sagen und uns in die Arme fallen und lachen müssen. Aber wir hatten damals schon vom Leben gelernt und deshalb hallte unser Schweigen die Hafenmauern hinunter. Ich spüre die Kante des Bürgersteigs unter meinen Sandalen, drehe meinen Kopf aus alter Gewohnheit nach links, nach rechts und wieder links bevor ich einen Schritt auf die Straße mache; vermutlich gibt es Dinge im Leben, die man nicht abzulegen
vermag. Auf der anderen Straßenseite wende ich mich nach rechts und beginne ein letztes Mal bis 120 zu zählen, bis die asphaltierte Straße in einen Trampelpfad mündet.
Links, rechts. Links, rechts.
Ich merke, wie meine Füße beginnen einzusinken und sich der feste Boden verändert. Der Wind zerrt stärker an meinen Haaren. Hier war immer die schönste Stelle des Weges; der Moment, in dem man hinter der Biegung das Meer sieht, das um diese Zeit in der Morgensonne schimmert. Hier habe ich immer verstanden, wie unwichtig meine Probleme sind. Ich streife meine alten Riemensandalen von den Füßen und versenke meine Zehen einen nach dem anderen im feinkörnigen Sand, bis ich die Kälte der Erde darunter spüre. Früher habe ich mir meine Fußnägel im Sommer in den unterschiedlichsten Farben lackiert. Hellblau wie das Meer an einem wolkenlosen Tag, pink wie die Erdbeerkugeln von dem Eisverkäufer, der immer auf der Promenade steht,
rot wie die Kirschen, die auf dem Wochenmarkt im Frühherbst verkauft werden. Heute lackiere ich sie mir nicht mehr, ich würde nicht mehr beurteilen können, ob das wirklich noch zu mir passt.
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Endlich höre ich auf zu zählen, setze einfach nur einen Fuß vor den anderen, ohne darüber nachdenken zu müssen und folge dem Rauschen der Brandung. Ich genieße das Gefühl, alleine mit mir und dem Meer zu sein und verlangsame meine Schritte bis die ersten kleinen Wellen über meine Füße schwappen. Das Wasser ist noch eiskalt, ich merke, wie mir eine Gänsehaut die nackten Waden hinaufkriecht. Aus einem Reflex heraus senke ich meinen Kopf in Richtung der Wasseroberfläche, so wie ich es früher immer gemacht habe. Eigentlich müsste sich jetzt mein Spiegelbild unter mir abzeichnen, stattdessen hat meine Welt dieselbe merkwürdige Farbe, wie wenn man die Augen im Tageslicht schließt. Es ist nicht richtig schwarz, noch nicht mal grau. Ein Hauch von orangener Wärme durchschimmert das, was man sonst hätte dunkel nennen können. So stehe ich da und genieße die wunderschöne Aussicht, die ich mir im Laufe meines Lebens so lange eingeprägt habe, wie ich konnte. Ich erinnere mich, wie ich mit dem Nachbarjungen im strömenden Regen in gelben Ponchos am Strand gesessen habe und hier Stunden verbracht habe, um nachzudenken. Wie ich anfing, diesen Ort als ein Zuhause zu sehen. Ich fühlte mich sicher; hier, wo wir uns am Lagerfeuer das erste Mal betranken, belogen und verliebten. Meine Mutter hat immer gesagt, dass das Meer zwar nicht die Antwort ist, aber dass es einen die Fragen vergessen lässt. Deshalb stehe ich hier immer noch mit den Füßen in
den Wellen, ohne dass mir etwas anderes geblieben ist, als das Vertrauen darin, dass sich diese Aussicht immer lohnen wird. Mit einem Seufzer drehe ich mich um, wate die Schritte zum Ufer zurück und setze mich mit dem Gesicht in Richtung Horizont in den Sand. Irgendwann mischen sich in das beständige Rauschen der Wellen die zügigen, schweren Schritte eines durch den Sand laufenden Joggers, der sich mir nähert. „Was für eine schöne Aussicht, nicht wahr?“, ruft er mir zu. Für einen Moment stockt mir der Atem und mich überrollen meine Emotionen. Ein Gefühl zwischen Wut und Enttäuschung gemischt mit Sehnsucht trifft mich und nimmt mir für einen Augenblick meine Sicherheit. Dann drehe ich langsam meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Ja, das ist sie“, flüstere ich in den Wind. „Wunderschön sogar“. Ich streiche mit der Hand durch den Sand neben mir, bis meine Finger meinen Blindenstock ertasten und stehe auf. Ich wende dem Meer den Rücken zu und mache einen Schritt vorwärts. Während ich den Stock von links nach rechts bewege, muss ich lächeln. Früher, als ich mich noch auf mein Augenlicht verlassen habe, habe ich das nicht wahrgenommen, aber wenn man dem Meer genau zuhört, dann flüstert es einem mit jeder Brandungswelle zu, dass alles gut werden wird; und hier und jetzt, da glaube ich ihm.
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5te Preisverleihung ,Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein‘ 2021

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Endlich konnte der Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein in Kiel am 22. Juni 2021 wieder eine Feierstunde in Präsenz abhalten, wenn auch in kleinem Kreis aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen. Das Preisgeld, sowie vier Extrapreise in diesem besonderen Jahr, wurde dankenswerterweise von Immobilien Schütt und Mitgliedern des Freundeskreises gestiftet.

Platz 1 Hannah Budde

Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Platz 2 Jana Nabea Schwarz
Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Platz 3 Jelis Hoedtke
Junger Literaturpreis Schleswig-Holstein – Preisträgerinnen 2021

Die drei Preisträger*innen kommen aus Ascheffel, Reinbek und Uetersen. Überhaupt sind nur 5 von 36 Einsendungen aus Kiel. Das Durchschnittsalter beträgt 17,02 Jahre; und, da sich der Wettbewerb an 14 – bis 20 jährige wendet, werden hoffentlich viele noch einmal Texte einreichen.
Die Themen kreisen um das eigene Selbst, setzen sich mit Anders sein, Einschränkungen und Todessehnsucht, aber auch Heimat, Liebe und Freundschaft auseinander.
Alle Teilnehmer*innen konnten sich erstmalig um ein würdigendes Gespräch mit einem der Juroren bewerben, eine Neuerung, die sicher noch einen größeren Raum bekommt, wenn mehr Gäste zugelassen sind.
Wie immer werden die drei besten Texte für das Literaturtelefon eingelesen, sie können bald gehört werden sowie auf dieser Website nachgelesen werden.

Frühstück im Frühling, fürwahr!

Unsere erste Veranstaltung nach so langer Zeit, wir haben es alle sehr genossen, wieder zusammen zu sitzen, andere Menschen als nur unsere Nachbarn zu sehen und uns persönlich zu unterhalten; unser Frühstück im Frühling am 13. Juni 2021 konnte draußen vor dem Literaturhaus im Zelt stattfinden. Und der Taschentuchbaum blühte immer noch!

Zugegeben, es war manchmal ein bisschen kalt, an einer Stelle tropfte es sogar durch eine Ritze des Zeltdaches (sorry, liebe Jutta, liebe Frau Schilf), zugegeben, unsere Stimmen waren wohl nicht immer laut genug (der Wind, der Hubschrauber, aber auch unsere nicht ausprobierte Ferne vom Mikrofon, schade, verpasst vorher!), trotzdem war es ein gelungener Vormittag! Das lag zum einem an unserem bewährt leckeren Büfett (ein großes Dankeschön noch einmal an Angelika, Karin, Nana, Illa, Jutta, Barbara und Stephan), aber auch an unserem Gast Prof Dr. Martin Lätzel,

der uns fesselnd von ganz unterschiedlichen Büchern, die ihn begleitet haben, berichtet und damit Einblicke in seinen Lebensweg gewährt hat. Die Liste der von ihm vorgestellten Bücher wird an alle Teilnehmer verschickt, sobald ich sie zur Verfügung habe.

Mit einigen Teilnehmerinnen stand ich vor dieser Gedenktafel für Selma Lagerlöf

Viele Male bin ich daran vorbei gegangen, aber ich wusste nichts zu berichten. Aber nun: „1932 verlieh die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Selma Lagerlöf einen Ehrendoktor in Theologie für ihre literarischen Schilderungen religiösen Lebens. Diese ungewöhnliche Auszeichnung erinnerte nicht allein an die Vermittlungsposition Kiels zwischen Deutschland und dem Norden, sondern bedeutete auch eine politische Demonstration gleichsam in letzter Minute: Person und Werk der erklärten christlich-nichtfaschistischen Dichterin sollten, als die Machtergreifung schon fast in Sichtweite gerückt war, als Gegengewicht gegen völkische und nationalsozialistische Bewegungen auch innerhalb von Kirche und Universität geehrt werden. Am 16. Dezember 1998, Selma Lagerlöfs 140. Geburtstag, wurde in Erinnerung an die Schriftstellerin und ihre Ehrendoktorwürde eine Gedenktafel am Literaturhaus Schleswig-Holstein im Alten Botanischen Garten enthüllt.“ Aus KulturSpuren Düsternbrook: Selma Lagerlöf (kiel.de)

Es war schön! Bis zu einem Wiedersehen entweder beim Sommerfest, Thema Schleswig-Holstein, am 6.8., oder bei einer Lesung in naher Zukunft oder bei der Mitgliederversammlung am 28. September grüßen Sie alle herzlich Gisbert Osmy (Fotograf) und Ute Zopf

„in Sachen Paul Valéry“

Zum Nachlesen – zum Entdecken – PAUL VALéRY

J. Schmidt-Radefeldt, langjähriges Freundeskreismitglied, nunmehr emeritiert und ‚nur noch‘ Schriftsteller, ist der letzte lebende Spezialist „in Sachen Valéry“ in deutschsprachigen Ländern. Ihm geht es darum Interesse am Werk Valérys zu wecken (13 Bände bei Fischer und Insel von ihm herausgegeben) zu wecken und er ist sicher zu Antworten bereit.

ERSCHIENENE HEFTE / NUMÉROS PARUS      –       ein Beispiel

11 – 1998 : Valéry und die deutschsprachige Welt – Valéry et le monde allemand Karl Alfred Blüher, Valéry und Kant / Olivier Bollacher, Paul Valéry und Thomas Mann. Zwei Vorkämpfer deutschfranzösischer Versöhnung und europäischer Einheit / Zwei [bisher unveröffentlichte] Briefe von Thomas Mann an Paul Valéry / Hans Holzkamp, Celan, Valéry und Niemand / Leo Adolph, Heimito von Doderer als Leser Valérys / Bibliographie zum Thema „Valéry und die deutschsprachige Welt“ / Dokumentation: Lissy Radermacher, Berliner Gespräch mit Paul Valéry [1926] / Victor Klemperer, Über Valéry [1931] / Martin Lowsky, Der poetische Orient oder Le „retour à l’état de fait“. Über Paul Valérys Vorliebe für „Tausendundeine Nacht“ / J. BobzienDeutschmann, Ein Vergleich deutscher Übertragungen von Baudelaires „Spleen“ und Valérys „Les Pas“ / Rezensionen / Bibliographie 1997- Aktuelle Informationen.

Die Übersicht über alle Hefte zu finden unter Gesamt Radefeldt – Kopie

Jürgen Schmidt-Radefeldt ist zu erreichen  unter j.schmidt-radefeldt@t-online.de, eine Telefonnummer ist durch Ute Zopf zu vermitteln, ebenso das Buch ‚Prinzipien aufgeklärter An-archie‘, das uns Herr Schmidt-Radefeldt freundlicherweise überlassen hat.

Informationen über ihn:   www.schmidt-radefeldt.de/jsr/htm

ERWERB VON EINZELHEFTEN / ACHAT DE NUMÉROS PARTICULIERS: Das Erscheinen der Reihe wurde 2019/2020 eingestellt. Restexemplare können reduziert zu 8 € plus Versandkosten bestellt werden. – Le Bulletin a été supprimé. Des exemplaires restant peuvent être commandés au prix réduit de 8 € port et emballage en sus. FORSCHUNGS- UND DOKUMENTATIONSZENTRUM PAUL VALÉRY, ROMANISCHES SEMINAR DER UNIVERSITÄT KIEL, SEKRETARIAT, LEIBNIZSTR. 10, D- 24098 KIEL. E-MAIL: dpfoertner@romanistik.uni-kiel.de

 

Deutscher Buchpreis 2020 – Annette, ein Heldinnenepos

Im Herbst haben bestimmt einige unser Mitglieder das kleine Heftchen mit den Vorstellungen der Werke der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelesen, dann kam eine Entscheidung, mit der sicher nicht viele gerechnet hatten. Dr. Wolfgang Butt hat uns eine Leseempfehlung geschickt, herzlichen Dank dafür.

 

 

Recycling eines unzeitgemäßen Genres

Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass man noch Heldenepen verfassen kann, doch Anne Weber hat mich mit Annette, ein Heldinnenepos eines Besseren belehrt. Und mehr als das: Sie hat das Genre recycelt und ihm eine Verjüngungskur verpasst, die es in sich hat; vielleicht ist es dadurch wieder zeugungsfähig geworden und kann sich fortpflanzen.

Ich lese diesen Text und reibe mir die Augen und es geht mir wie der Autorin, als sie ihrer Heldin gegenübersitzt, ihre Geschichte hört und sich fragt: „Dich gibt’s? Dich gibt es wirklich?“

Ja, ich reibe mir mehrfach die Augen bei der Lektüre dieses Textes und empfinde Dankbarkeit dafür, dass es ihn gibt, dass er geschrieben wurde und ich ihn lesen kann. Es drängt mich, eine Eloge zu verfassen, auch etwas aus der Mode Gekommenes, das man vielleicht recyceln sollte, unter Verzicht auf die Beflissenheitsfloskeln, die sich gleich aufdrängen, denen es jedoch zu widerstehen gilt. Wohlfeile Vokabeln aus landläufigen Beweihräucherungs-, Betroffenheits- und Empörungslitaneien; ich nenne nur eine pro toto: zutiefst. Man könnte im Folgenden beinahe jedes Adjektiv mit dem Adverb zutiefst versehen, dann wären wir mittendrin, doch genau das hat Anne Weber nicht verdient, keine Beweihräucherung, keinen Verweis auf Höheres und Hehres, kein salbaderndes „zutiefst“. Im Gegenteil, ein handwerklich gemeintes „gut gemacht“ ist eher angebracht.

Was ist denn gut gemacht an diesem Heldinnenepos? Anne Weber hat dem Genre eine gegenwärtige, menschliche Dimension gegeben (ob der Wechsel von männlich zu weiblich dafür mit ausschlaggebend war, lasse ich dahingestellt). Die Lebensgeschichte ihrer Heldin ist für einen schreibhungrigen Geist ein gefundenes Fressen, aber eben auch ein Fund, den man erst machen und dessen Potential man erkennen muss: Von der Jugend der heute fast hundertjährigen Annette Beaumanoir in einem kommunistischen Elternhaus in der Bretagne über ihre Beteiligung an Aktionen der Résistance gegen die deutsche Besatzung, ein anscheinend nebenbei absolviertes Medizinstudium und Berufstätigkeit als Ärztin (daneben Mutter von drei Kindern) im Marseille der frühen Nachkriegszeit, in der sie sich für den Freiheitskampf Algeriens einsetzt, dafür in Frankreich verhaftet und verurteilt wird, nach Tunesien flieht und schließlich das nahezu nicht existente algerische Gesundheitswesen unter der Regierung Ben Bella aufbaut, bis sie unter Boumedienne auch dort in Ungnade fällt und in die Schweiz flieht, wo sie als Medizinerin tätig ist, bis eine Amnestie ihr die Rückkehr nach Frankreich ermöglicht. Was für ein Leben.

Die sprachliche Form, in der dieses Leben geschildert wird, eine weitgehend alltägliche, aber rhythmisierte Prosa ohne festes Versmaß, leistet zweierlei: einerseits hebt sie das Erzählte ab vom Alltäglichen, anderseits jedoch nicht so weit, dass es unserer Wirklichkeit entschwebte. Annette und ihr Leben bleiben erdnah, greifbar. Höhere Mächte, wie sie im traditionellen Epos nicht selten die Hand mit im Spiel hatten, haben ausgedient. Was Annette und ihr Handeln antreibt, ist nichts weiter als ein simpler – und das heißt: nicht religiös oder ideologisch gestützter, sondern primär menschlicher – Sinn für Gerechtigkeit. Damit eckt man an, stört glatte Abläufe, gerät zwischen Fronten, landet auf der falschen Seite und bei falschen Freunden. Nichts davon ist der Heldin dieses Buchs erspart geblieben, und nichts davon wird um ihres Heldinnenstatus willen unter den Teppich gekehrt. Denn da ist diese nie exaltierte Erzählstimme, die bei aller Loyalität und Sympathie für die Protagonistin eine nüchterne Distanz hält, kühlen Kopf bewahrt und Fragen stellt, die ihre Berechtigung haben, auch wenn sie nicht beantwortet werden. Da ist zugleich Raum für Ironie, in alle Richtungen, und die Autorin hat offenbar gut genug recherchiert, um auch dem selbstgerechten Frankreich die ein oder andere Wahrheit ins Stammbuch zu schreiben. Nicht nur Individuen begeben sich auf Irrwege.

Ich hätte die Geschichte der Annette Beaumanoir, wäre sie als Sachbuch verfasst worden, vermutlich halb gelesen aus der Hand gelegt. Hier stattdessen, im Heldinnenepos, möchte ich die ganze Zeit dabeibleiben, nicht nur, um den Wegen und Irrwegen der Hauptperson, sondern vielmehr um den erzählerischen und sprachlichen Wegen der Autorin zu folgen, die die Gratwanderung, die ihr Experiment darstellt, mit Bravour meistert. Es ist ja nicht so, dass der Versuch, die alte Form des Epos zu recyceln, dazu noch als HeldINNenepos, nicht ebenso gut scheitern und zu einer unfreiwilligen Parodie hätte geraten können. Auf der anderen Seite des Grats wäre der Absturz in die Banalität vorstellbar gewesen.  Doch nichts dergleichen. Der Sog der ohne syntaktische Verrenkungen rhythmisch fließenden Sprache, mit der uns Anne Weber in den Bann ihrer Erzählung zieht, hält an bis zum Schluss, trotz der Nüchternheit des Tons.

Am Ende greift die Autorin, die generell eher zum understatement als zum overstatement neigt, dann doch noch in ein höheres Fach, indem sie das Leben der Annette Beaumanoir durch einen indirekten Vergleich mit Sisyphos ins Mythisch-Allgemeine hebt. Ihr Bezugspunkt freilich ist die aller Tragik abholde, dem Positiven zugewandte existentialistische Interpretation von Albert Camus, in dessen „Der Mythos des Sisyphos“ es sinngemäß heißt (Zitat Anne Weber): „Der Kampf, das / andauernde Plagen und Bemühen hin zu / großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz / zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten / glücklich vorstellen.“

 

Anne Weber, Annette, ein Heldinnenepos, 208 S. Matthes & Seitz. Deutscher Buchpreis 2020