Carmen Mahler – 1. Preis
„Stilblüten“
Klick. Klack. Klick. Klack.
Er seufzte.
Klick. Klack. Klick.
Er ließ er den Kugelschreiber mit rhythmischem Klickern über die Schreibtischplatte wandern. Die silberne Spitze bohrte sich in das weiche Holz, wo es einen hässlichen Abdruck hinterließ, um sich gleich darauf wieder in das abgegriffene Plastikgehäuse zurückzuziehen. Klick. Klack. Wie hypnotisiert beobachtete er dieses Spiel, wieder und wieder. Bald war sein ganzer Tisch schmutzig, lediglich ein blütenweißes Blatt Papier lag unberührt vor ihm. Er seufzte abermals. Er wollte doch schreiben, ja, musste es sogar. Doch er konnte nicht.
Ein letztes Klicken verhallte im Zimmer. Er ließ den Stift leidenschaftslos auf die Tischplatte fallen, schüttelte eine verkrampfte Hand und schaute sich um. Eigentlich hätte sein Schreibzimmer so wunderbar sein können: die Werke bedeutender Vorfahren reihten sich in deckenhohen Regalen aneinander, edelstes Papier stapelte sich in den Schubladen seines antiken Schreibtischs, eine Katze schlief friedlich in ihrem Körbchen und weißgetünchte Sprossenfenster gaben den Blick auf einen prächtigen Garten frei. Inmitten dieser Idylle fühlte er sich furchtbar fehl am Platz. Denn das Wesentliche im Dasein eines Schriftstellers fehlte ihm: die Inspiration. An manchen Tagen traf sie ihn wie der Blitz, beim Frühstück, unter der Dusche, im Schlaf. Dann eilte er meist in sein Schreibzimmer und tauchte für einige Stunden in die von ihm erschaffene Welt ein. Doch heute? Er lauerte förmlich darauf von der Welle übermannt zu werden, dem vertrauten, unbestimmten Gefühl, etwas in sich zu tragen, das nur darauf wartet, endlich in Worte gefasst zu werden. Doch so sehr er auch hoffte, es geschah nichts. Die Leere, die auf dem Blatt Papier vor ihm herrschte, schien die Kontrolle über sein Innenleben übernommen zu haben. Und was brachte ihm ein vollgestopftes Bücherregal, wenn keines der Werke von ihm stammte. Er stand auf, streckte sich und stellte sich ans Fenster. Es war ein warmer Frühlingstag und die ersten Blumen reckten ihre farbenfrohen Blüten gen Himmel und bemühten sich, einen Sonnenstrahl zu erhaschen. Die Wärme, die nach dem langen Winter nun endlich im Land Einzug hielt, hauchte der Natur neues Leben ein. Einhauchen, murmelte er. „Inspirare“, auf Lateinisch. Da wusste er, dass er – in diesen Raum eingesperrt – lange auf die Inspiration warten konnte. Wenn sie nicht zum ihm kam, musste er eben zu ihr.
Der frische Duft nach Frühling stieg ihm in die Nase, kaum, dass er einen Schritt in den Garten gesetzt hatte. Die ersten Blätter, noch vom Morgentau überzogen, schimmerten in sattem Grün. Er meinte förmlich zu spüren, wie eine imaginäre Last von seinen Schultern fiel. Langsam setzte er sich in einem Liegestuhl und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Das Vogelgezwitscher um ihn herum, der beinahe kitschige Frieden, war wie Balsam für seine Seele. Es konnte nicht mehr lange dauern, dessen war er sich sicher. „Schreibst du heute denn gar nicht?“, sagte da eine Stimme neben ihm. Er öffnete erst ein, dann beide Augen, neigte den Kopf etwas nach unten und schaute geradewegs in ein ihm vertrautes Gesicht. Eine Blume reckte ihm ihren Kopf entgegen und wiederholte ihre Frage: „Musst du denn heute gar nicht schreiben?“ Es wunderte ihn nicht im Geringsten, dass eine Blume zu ihm sprach. Ganz im Gegenteil: es hätte ihn viel mehr erstaunt, wären diese wunderschönen, grazilen Geschöpfe, die sich Jahr für Jahr aus der kalten Erde an die Oberfläche kämpften, nicht in der Lage, sich auszudrücken. Die Natur kreiert nicht einfach etwas Schönes, das nutzlos ist.
„Da bist du ja“, sagte er zu dem Stiefmütterchen. „Ich hatte fast mit dir gerechnet“. Die Blume schüttelte ihr Köpfchen. „Mal wieder keine Inspiration?“, fragte sie dann. Er nickte nur. Das Stiefmütterchen runzelte ihre Blüten. „Was dir fehlt, sind die Fertigkeiten eines wahren Schriftstellers. Aber hab‘ keine Sorge, ich werde dir helfen“, sagte sie nach einer kleinen Pause. „Ich bin vielleicht nur eine langweilige Friedhofsblume, aber eines möchte ich dir mit auf den Weg geben: Gedenke deiner Wurzeln! Denn nur, wer sich seiner Vergangenheit besinnt, kann auch in der Zukunft Großes leisten!“. Er staunte nicht schlecht, als er solch weise Worte von einer Blume hörte, doch dann rief er sich in Erinnerung, dass es immer noch der Garten eines Schriftstellers – oder zumindest eines Mannes, der es gerne wäre – war, in der sie gedieh. Der Boden schien jedenfalls eine Prise künstlerischen Düngers zu enthalten.
Eine weitere Stimme erhob sich, und auch damit hatte er gerechnet. „Ich würde gerne einen Ratschlag hinzufügen“, rief die Hortensie und der Strauch raschelte. „Durchhaltevermögen ist das Zauberwort! Nimm dir ein Beispiel an mir!“ Er wusste, was die Pflanze ihm sagen wollte. Die Hortensie war ihm zwar nicht sonderlich sympathisch, doch eines musste man ihr lassen: während die meisten Blumen ihre Blüten nach wenigen Wochen verloren, so blühte die Hortensie noch im Hochsommer und erfüllte seinen Garten mit Farbe.
Plötzlich schepperte es auf der Terrasse. Der Topf mit dem Kaktus, den er erst vor kurzem erstanden hatte, bewegte sich. Dann räusperte sich eine heisere Stimme. „Ich kann mich der Hortensie nur anschließen: ein guter Schriftsteller sollte mit langen Durststrecken umgehen können!“ Die Hortensie klimperte geschmeichelt mit ihren Blättern. Er aber schaute den Kaktus verwundert an. War sein Ratschlag etwa ein versteckter Vorwurf gewesen? Er beschloss, bei elegenheit dessen Erde zu überprüfen und ihn gegebenenfalls öfter zu gießen.
Er streckte sich in seinem Liegestuhl und schaute dann vom Stiefmütterchen hinüber zur Hortensie und zum Kaktus. „Ich danke Euch für eure Hilfe, aber – mit Verlaub klingt das nicht alles etwas genügsam, nach einem guten Verlierer? Wo bleibt denn der Erfolg?“ Ein zustimmendes Gemurmel kam aus dem Boden: „Ganz richtig!“, rief dann das Schneeglöckchen. „Keine falsche Bescheidenheit: man sollte auch mal Erster werden!“, verkündete es mit seinem hellen Stimmchen. Er schmunzelte. Das zarte Pflänzchen war sein heimlicher Liebling im Garten. Die Winter konnten noch so finster und kalt sein: wenn das erste Schneeglöckchen seinen Weg aus der Erde gefunden hatte, wusste er, dass der Frühling nicht mehr fern sein konnte. Er lächelte dem Schneeglöckchen zu. Und da kam es plötzlich: dieses Kribbeln in seinen Händen.
Aufgeregt erhob er sich. „Es geht los!“, rief er glücklich, und wollte gerade ins Haus laufen, doch seine Pflanzen hielten ihn zurück. „Warte!“, rief das Stiefmütterchen. „Wir haben noch etwas für dich!“. Mit einem Mal verloren alle Blumen im Garten gleichzeitig eine ihrer bunten Blüten, sogar der Kaktus ließ einen winzigen Dorn auf den Boden fallen. Sie fügten sich zu einer duftenden Wolke zusammen und landeten in seinen Händen. „Nimm sie mit und denk an unsere Worte!“, sagte die Hortensie. Er nickte lächelnd, dann machte er sich mit seiner Sammlung an Stilblüten auf den Weg in sein Schreibzimmer.
Es war alles unverändert: der Kugelschreiber achtlos hingeworfen, das Blatt Papier unbeschrieben. Lediglich die Katze war aufgestanden und jagte im Garten Schmetterlinge. Er stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich, erst langsam, dann immer schneller und schneller. Als ihm schwindelig wurde, blieb er stehen und warf er die Blüten beherzt in die Luft. Außer Atem schaute er ihnen zu, wie sie langsam herunterschwebten und auf dem Boden einen winzigen Blütenteppich bildeten.
Er ging zu seinem Schreibtisch und hatte sich kaum hingesetzt, als sie plötzlich wie eine Lawine über ihn hereinbrach: die Inspiration. Sie wollte sich endlich ihren Weg nach draußen bahnen, sich in Form von blauer Tinte an das Blatt Papier schmiegen. Er nahm den Kugelschreiber in die Hand. Klick.
Und begann zu schreiben.