Am Literaturtelefon unter der Rufnummer 0431/901-8888 und auf www.literaturtelefon-online.de sind in den nächsten Wochen die Preisträger des vom Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. ausgeschriebenen Jungen Literaturpreises S.-H. 2019 zu hören. Angelina Bock gewann mit ihrem Text „Der Glücksmacher“ den 3. Preis und liest ihn am Literaturtelefon vom 15. bis 28.4. Die Aufnahme entstand im Rahmen der Lesung zur Preisverleihung im Literaturhaus S.-H. am 25.3.2019.
Laudatio (Jörg Meyer)
„Es war einmal“, „eines schönen Tages“, so beginnen Märchen und spinnen sich fort. Auch dieses vom „Glücksmacher“. Angelina Bock „bedient“ das Genre entsprechend und karikiert, parodiert es zugleich. Was vom Klang her und in der Faktur fast aus der originalen Feder der Gebrüder Grimm stammen könnte, ist ein ganz modernes Märchen vom Glück – und seiner Flüchtigkeit.
Ein Glücksmacher ist hier unterwegs zu manchen Unglücklichen, um ihnen das Glück zu bringen, sie zu beglücken. Wie beim berühmten Märchen „vom Fischer und siene Fru“ dekliniert die Autorin die Glücksempfängerinnen durch – auch sprachlich wie in nämlichem Märchen, wo sich Sätze des immer Gleichen wiederholen. Der eine hat dies Leid, die andere jenes Gebrechen und wird vom Glücksmacher geheilt, indem er ihnen das Glück übergibt. Doch die alte Geschichte bleibt immer neu, wie Heine einst wusste: Das Glück heilt für den Moment, doch dann will es wieder zurück zu seinem „Vater“ und Macher, bevor es selbst unglücklich wird.
Sagen wir es ruhig so: Dieses Märchen glückt in seinem geradezu archaisch erzählerischen Kreisen um das Glück, das immer nur für einen Moment da ist, um dann wieder zu verschwinden, auf neue Reise zu gehen. Eine wundervolle, geradezu philosophische Parabel auf das wie sein Macher stets auf Wanderschaft befindliche Glück. Nur in seiner Flüchtigkeit ist es, kann nur so sein.
Und wenn es am Ende heißt „Denn der Glücksmacher, so sagt man, kommt bei jedem einmal vorbei. So wird er auch zu dir kommen, um das Glück in deine Hände zu legen. Welches Unglück wirst du ihm dann klagen und wie lange wirst du warten?“, sind wir als LeserInnen seltsam beglückt – und auf das Glück hoffend getröstet.
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Erstmalig fand diese Preisverleihung unter ungünstigen Bedingungen statt: Zwei der Preisträger mussten ihre Teilnahme absagen: Der Schüler in Rom bat den Großvater um seinen Einsatz und der Text der Zweitplatzierten wurde angemessen vorgelesen von der Praktikantin aus dem Literaturhaus Sölve Lorenzen, die wir tatsächlich erst am Tag selbst gefragt hatten.
Angelina Bock, 3ter Platz, liest Der Glücksmacher
Sölve Lorenzen liest für Luisa Linkersdörfer, 2ter Platz aus Der Hund der aus dem Meer kam
Herr Wagner liest für Nicolas Geissler, 1ter Platz aus Auch der ewige Sommer muss enden
Sölve Lorenzen war bereit einzuspringen, unseren herzlichen Dank noch einmal
Die Jurymitglieder R. Steinriede, S. Ratschow und G. Beissenhirtz im Gespräch
Trotz aller Hindernisse hörten all unsere Gäste interessiert und konzentriert zu, als Angelina Bock, die dritte Preisträgerin, begann.
Im Anschluss entspannen sich lebhafte und interessante Gespräche
A. Stargardt sorgt dafür, dass alle Schulen informiert sind, sicher ein Grund, dass wir so großen Zuspruch aus dem Land bekommen haben, u.a. waren zwei Teilnehmerinnen aus Niebüll gekommen mit ihrer Lehrerin N. Köhler.
In bewährter Weise gab es ein Büfett mit leckeren Häppchen, zubereitet von Helferinnen aus dem Freundeskreis: herzlichen Dank an Ulli Gehl, Angelika Faust, Mücke Voss, Karin Bündgens, Brigitte Drews, Brigitte Lindner, Marianne Recknagel, Romy Steinriede, Ute Pfeiffer, Jutta Kürtz, Ilona Osmy, lieben Dank auch für alle Hilfe am Abend selbst. Es war wieder eine ‚schöne’ Feier!
Wenn jemand Celeste Waterkamp fragen würde, wie ihrer Meinung nach Hamburg schmecke (was wahrscheinlicher war, als man vielleicht denken würde, denn die Leute, mit denen Celeste normalerweise redete, stellten ungewöhnlichere Fragen als die meisten Menschen), würde sie antworten: Nach Salz. Nach einer leichten Spur von Schmieröl. Nuancen von Fisch und Franzbrötchen. Der Geruch eines Regenschauers auf der Zunge. Und der Geschmack von Möwenschreien, falls man sich das irgendwie vorstellen kann. All diese verschiedenen Aromen vermischten sich auf ihrer Zunge zu diesem ganz besonderen, persönlichen Hamburg-Geschmack, der ihr immer sofort sagte, dass sie sich wieder in der Hansestadt aufhielt und den sie jedes Mal wiedererkannte, obwohl sie höchstens ein paar Wochen im Jahr hier verbrachte. Es war dieselbe Magie der Vertrautheit, die sie auch jetzt automatisch aufstehen ließ, als die Hochbahn die richtige Station erreichte. Es zischte, während die Schiebetüren der Bahn sanft aufglitten. Celeste trat auf den Bahnsteig, als sie bemerkte, dass der eine Typ aus der Bahn sie immer noch mit offenem Mund anstarrte, ein mickriges Bürschchen, vielleicht Anfang zwanzig, schmalbrüstig, gekleidet in ein kariertes Polohemd, die Haare fantasielos gekürzt, Streberbrille auf der Nase. Maschinenbaustudent? Celeste drehte sich mit betont dramatischer Geste um, warf ihr zu Ehren ihres Vaters blau-weiß gefärbtes Haar zurück, stemmte die Hände in die Hüften, blitzte den Typen kalt mit ihren kaleidoskopfarbigen Augen an und fragte so laut, dass es auf dem ganzen Bahnsteig zu hören war: „Was ist? Hast du noch nie gesehen, dass ein Mädchen im Bikini U-Bahn fährt? Oder wenn ich mir dich so ansehe: Hast du vielleicht allgemein noch nie ein Mädchen im Bikini gesehen? Oh, entschuldige, ich verstehe, du erlebst gerade diesen ach-so-wichtigen Moment in der männlichen Entwicklung, wo einem klar wird, dass es auch noch ein Geschlecht mit ganz anderen Körpern gibt! Das kann natürlich ein kleiner Schock sein, aber eigentlich sollte dieser Moment ein bisschen früher kommen, meistens so mit sieben Jahren.“ Karohemd wurde knallrot im Gesicht und drehte schnell den Kopf. Celeste wollte noch nachlegen, aber dann blinkte auch schon das rote Warnlicht und die Türen schlossen sich mit einem Geräusch wie von einer kaputten Luftpumpe. Celeste sah der Bahn nicht lange hinterher, sondern drehte sich um, ging so schnell es ihre regenbogenfarbenen Flipflops erlaubten die Treppen hinunter und trat auf eine Straße irgendwo im Hamburger Norden. Während sie ihren Weg fortsetzte, zog sie immer wieder irritierte, missbilligende oder auch einfach nur faszinierte Blicke auf sich. Selbst für Hamburger Verhältnisse, wo man wenigstens auf dem Kiez so einiges gewohnt war, bot Celeste Alba Waterkamp, wie sie sich selbst nannte, eine ungewöhnliche Erscheinung. Dass ihr voller Name so nicht in ihrem Pass stand, war eine komplizierte Geschichte und hatte mit ihrem Vater zu tun. Celeste war recht schmal gebaut und für ihre siebzehn Jahre weder besonders groß noch besonders klein, dafür setzte nicht nur ihre Kleidung ein deutliches Ausrufezeichen: Heute bestand sie aus einem bunten Schal, einem Bikinioberteil in allen Farben des Regenbogens und einem perlenbesetzten Rock aus künstlichen Kormoranfedern. Auch ansonsten war Celeste mit ihren Federohrringen, dem dunklen Eyeliner, den unterschiedlich gefärbten Lippen (für die Oberlippe benutzte sie lila, für die Unterlippe rot) und natürlich ihrem vor dem letztem Glied gekappten rechten kleinen Finger niemand, den man leicht übersah. Eine Vielzahl von Ketten, Armreifen und Amuletten, die heilige Symbole aus mindestens zehn verschiedenen Religionen zeigten, rundeten ihre Erscheinung ab. Sie passten hervorragend zu etwa fünfzehn kleineren Tätowierungen, die sich über Arme, Nacken und den ganzen Oberkörper verteilten und die weitere mystische Zeichen abbildeten. Die fast hüftlangen Haare färbte sie sich normalerweise in den Farben des Landes, in dem sie sich gerade aufhielt – rot-gelb, grün-weiß-rot, weiß-rot, rot-grün, sehr oft rot-blau-weiß und selten mal sogar orange-weiß-grün. Doch heute trug sie eine lässige Kombination aus hellblau und weiß, mit der sie bei jedem Karneval sofort der Hingucker gewesen wäre. Ihre gefärbten Haare bauschten sich im leichten Wind, als Celeste in eine Seitenstraße einbog und endlich ihr Ziel vor sich sah. Das einstöckige Ziegelhaus lag in einer ziemlich grünen Nachbarschaft, die hauptsächlich aus Einfamilienhäusern und kleineren Mehrfamilienhäusern bestand; gegenüber lag ein ziemlich kleiner Park mit einem noch winzigeren Spielplatz daneben. Der taubengraue Himmel über den satt dunkelgrünen Eichen hinter dem Haus verlieh diesem etwas auf düstere Weise Würdevolles. Leichter Wind rauschte in den Bäumen und es klang, als würden dreihundert Flötisten gleichzeitig in zerknitterte Papiertüten hauchen. Ein Kiesweg führte zur offenen Eingangstür, über der ein Schild von der Bauart hing, die für Gaststätten typisch ist: „ROSARIO. Restaurante, Sportbar & Tango Club“. Im Gartenbereich links standen einige Tische unter flaschengrünen Sonnenschirmen, die das Logo einer Hamburger Biermarke zierte, doch die meisten waren unbesetzt. Plötzlich zögerte sie. Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Vor einigen Monaten? Nein, verdammt, es war schon fast ein Jahr her! Jedes Mal habe ich Angst, dass sich die Dinge geändert haben, Angst, dass ich es irgendwann nicht mehr wiedererkenne, dass es aufhört, sich wie der Ort anzufühlen, der so wichtig für mich ist. Aber was soll´s, ich werde es nicht herausfinden, wenn ich vor der Tür rumstehe wie ein Stapel Leergutkisten! Celeste fasste sich ein Herz und trat ein. Innen sah es in vielerlei Hinsicht so aus wie in allen deutschen Gaststätten: Tische aus dunklem Holz, Speisekarten und Platzdeckchen darauf, rechts ein Tresen mit Zapfanlage. Aber es gab auch viele Eigenheiten. Hinten links, neben dem Eingang zur Küche, war eine Freifläche geschaffen und eine Lampe tauchte die nackte weiße Wand in ein hellblaues Licht – an drei Abenden die Woche fanden dort Tanzveranstaltungen statt. Die Wand hinter dem Tresen war über und über mit Fotos und sonstigem Zierrat bedeckt, überwiegend Bilder von argentinischen Fußballspielern. Einige Schwarzweißfotos zeigten jedoch auch Soldaten in Uniformen der argentinischen Armee, dazwischen ein alter Kalender von 2006. Drei Trikots hingen über dem Tresen: Das linke von der argentinischen Nationalmannschaft, mit der Nummer elf und dem Namen Kempes. Auch das mittlere Trikot zierte Mario Kempes´ Name, allerdings war es vom Verein Rosario Central. Das rechte war wieder ein Trikot der Nationalelf, der Name darauf lautete Maradona. Daneben hing ein Poster von Lionel Messi, auf das jemand mit rotem Filzstift „101% Anti NOB“ geschrieben hatte, was Celeste ein leises Lächeln entlockte. Wie sie nur zu gut wusste, war der Besitzer der Kneipe ein glühender Anhänger von Rosario Central, daher hatten sowohl Kempes als auch Angel Di Maria- dessen Trikot an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt war- als ehemalige Spieler Rosarios Ehrenplätze erhalten. Doch Lionel Messi hatte für den Lokalrivalen Newell’s Old Boys gespielt und daher einen eher schweren Stand. Ihr Blick glitt weiter durch den Raum. Rechts über dem Tresen hing immer noch der wie meistens auf stumm gestellte Fernseher, der Wiederholungen von argentinischen Ligaspielen zeigte. Die Kopfseite des Raumes wurde von einer großen Kreidetafel dominiert, auf der normalerweise das Menü des Tages geschrieben stand, doch heute verkündete sie nur: „Heute Abend 20:00 Fußball live: Argentina vs. Kroatien.“ All diese Eindrücke fluteten normalerweise wie ein Jahrhunderthochwasser auf den arglosen Gast ein, doch Celeste war das Zeug schon gewohnt und konzentrierte ihre volle Aufmerksamkeit auf den kleinen, etwas dicklichen Mann hinter dem Tresen, der gerade ein Bierglas auswischte. Er war braungebrannt, trug eine fleckige hellblaue Schürze, sein angegrautes Haar lichtete sich schon etwas und er schien sie bisher nicht zu bemerken. Celeste räusperte sich: „Hallo, Papa.“ Ramón Alba Galvez rutschte das Glas aus der Hand, als er ihre Stimme hörte, und nur seine guten Reflexe, die noch aus seiner Militärzeit stammten, bewahrten das Glas davor, sich in einen Splitterregen aufzulösen. Er fing es schnell mit der linken Hand auf und stellte das Bierglas eilig ab. Der argentinische Gastwirt schmiss den Lappen beiseite und kam für seine untersetzte Gestalt erstaunlich flink hinter dem Tresen hervorgestürzt. „Celeste! Gott sei es gedankt, mein kleines Mädchen ist zu mir zurückgekehrt! Mein Augenstern, mein Ein und Alles, mein El Dorado, warum hast du nicht gesagt, dass du in der Stadt bist? Ich hätte dich abgeholt“, sagte er mit nach all den Jahren in Deutschland immer noch schwerem lateinamerikanischem Akzent. „Ich wollte dich überraschen, Papa.“ „Dios me salve, das ist dir gelungen!“ Und Ramón zog sie mit seinen baumstammartigen Armen in eine Bärenumarmung, wobei er sie fast erdrückte. Celeste presste sich an ihn und genoss es für einen Moment einfach nur, ihrem Vater nah zu sein, bis sie keine Luft mehr bekam und sich aus seinen Armen heraus kämpfte. Tatsache war, sie hatte ihrem Vater deshalb nicht vorher von ihrem Besuch erzählt, weil sie genau wusste, dass er ein unglaubliches Brimborium veranstalten würde. Und so etwas konnte Celeste nicht ausstehen, sie wollte sich nicht wie bei einem Staatsbesuch oder wie eine Kriegsheimkehrerin fühlen, sondern für einen Moment einfach mal normal und vor allem zu Hause. „Komm, setz dich, mein Mädchen. Kann ich dir was anbieten? Etwas zu trinken oder hast du Hunger? Die Küche hat noch nicht geöffnet, aber das ist kein Problem.“ Ramón hatte inzwischen ins Spanische gewechselt, eine Sprache, die auch Celeste seit frühester Kindheit beherrschte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie mit dieser Sprache aufwachsen solle, hatte bei ihren Besuchen immer geduldig mit ihr geübt und natürlich hatte sie auch Spanisch gesprochen, als sie mit fünf Jahren mit ihm nach Rosario geflogen war, um ihre argentinischen Verwandten kennenzulernen. Vier Wochen waren sie dort unten geblieben und obwohl sie unter sehr einfachen Bedingungen im Haus ihrer Großmutter gelebt hatten, war Celeste selten glücklicher gewesen. Doch trotz ihrer Sprachkenntnisse schwirrte ihr von seinem Redeschwall der Kopf und sie antwortete achselzuckend: „Eine Cola vielleicht.“ Flink wie ein großer Schneeball, der einen Berg hinunterrollt, trippelte Ramón zu dem wuchtigen Eisschrank und nahm innerhalb eines Atemzuges eine Flasche Cola heraus, griff mit der anderen Hand ein Glas und füllte es so rasch, dass Celeste hätte schwören können, dass er irgendwo unter seiner Schürze und dem ausgeleiertem T-Shirt noch zwei bis drei weitere Arme versteckte- zumal nun auch noch scheinbar aus dem Nichts eine Schüssel mit Erdnüssen in der glaslosen Hand aufgetaucht war. Mit dieser Hand wies er jetzt auch nach draußen. „Setzen wir uns! Hier können wir uns nicht richtig unterhalten.“ Im selben Moment erschien ein etwa fünfzigjähriger Mann mit schütterem Haar und Holzfällerhemd in der Tür zum Gartenbereich: „`Tschuldigung Ramón, besteht die Möglichkeit, dat ich dat her mol auffüllen kann?“ Er hob ein leeres Bierglas. „Zapf dir selbst was, Erwin. Ich bin beschäftigt.“ Erwin zuckte mit den Achseln, trat zur Zapfanlage herüber und nickte Celeste freundlich zu. Ramón indes führte seine Tochter mit Nachdruck durch die Tür und zu einem unbesetzten Tisch in der Ecke, direkt neben einer Thujahecke. „So, mein Augenstern, dann erzähl mal, wie es dir so geht. Wie stehen die Dinge auf diesem komischen Schiff? Behandelt Daniela dich gut?“ Celeste seufzte und verdrehte die Augen. „Natürlich, sie ist schließlich meine Mutter. Und JA, ansonsten ist auch alles gut. Wir sind noch bis morgen hier in Hamburg und fahren dann weiter nach Amsterdam. Und im Herbst geht es dann wieder in Richtung Mittelmeer.“ „Das ist doch kein Leben für ein Mädchen in deinem Alter, immer nur unterwegs! Was ist mit der Schule? Und du siehst so dünn aus, isst du genug?“ „PAPA. Ich brauche keine feste Schule, das geht heutzutage auch alles online.“ Keine ganze Lüge. Aber den Spruch „das ist doch kein Leben“ höre ich oft- auch von mir selbst. „Und bisher bin ich jedenfalls noch nicht verhungert. Es ist übrigens nicht gesund, sich immer so vollzustopfen.“ „Auf den Malvinas sind wir froh gewesen über alles, was es gab! Iss immer, wenn du kannst, du weißt nicht, wann es wieder was gibt.“ „Erzählst du das auch deinen Gästen? Oder hältst du dich nur selbst dran?“, fragte Celeste lachend und stupste ihrem Vater in den nicht unbeträchtlichen Bauch. Ramón warf einen beleidigten Blick auf seinen in den vielen Jahren als Kneipier angewachsenen Rettungsring und seufzte gespielt dramatisch. „Heilige Mutter Gottes, so weit ist es mit mir gekommen, dass ich mir solche Frechheiten von meiner eigenen Tochter anhören muss – die dazu immer noch herumläuft wie eine Tänzerin auf dem Karneval in Rio, die arme Sünderin! Grausame Welt, andere Väter sorgen sich über Töchter, die sich mit Rasierklingen ritzen, aber meine muss sich ja gleich die ganze Fingerkuppe abschneiden!“ Er bekreuzigte sich. „Das war wirklich nichts als ein kleiner Unfall, Papa- aber es macht eh keinen Unterschied, ob man jetzt zehn oder neuneinhalb Finger hat.“ „Ich kenne keinen normalen Menschen, dem solche Sachen passieren.“ „Tja, ich bin halt kein normaler Mensch, Papa. Kennst du nicht den Spruch, dass das Äußere eines Menschen ein Spiegel seiner Persönlichkeit ist?“ Ramóns Blick wurde weich. „Und da ich deine Persönlichkeit kenne und über alles liebe, kann ich auch nichts gegen dein Äußeres sagen, mein El Dorado? Du bist wirklich sehr clever… Aber du hast Recht; ich bin auf der einen Seite vom Himmel gesegnet mit so einer wunderbaren Tochter und anderseits verflucht, weil ich sie nur so selten sehe.“ Seine Miene bekam etwas Flehendes. „Warum kommst du nicht und ziehst dauerhaft bei mir ein? Vor einigen Jahren, als du mal ein halbes Jahr hier warst, hat das doch auch super geklappt.“ Celeste wurde das Herz schwer. „Mama würde das bestimmt nicht zulassen“, sagte sie leise. „Und außerdem ist das Leben auf dem Schiff zwar anstrengend und unbequem, aber ich mag es auch, denn es ist spannend und aufregend.“ Ramón warf die Hände in die Luft. „Was hat sich Daniela nur dabei gedacht, ein Kind in solcher Umgebung großzuziehen? Ist sie immer noch mit diesem Niederländer zusammen?“ „Mit Pieter van den Rhein? Nein, schon lange nicht mehr, weißt du doch.“ „Warum lebt sie dann immer noch auf seinem Schiff?“ „Weil sie dieses Leben nun mal mag.“ Tatsache war, dass Celeste nie ein anderes Leben gekannt hatte als dieses Vagabundenleben auf einem Hausboot voller frustrierter Aussteiger in der Midlifecrisis. All dies hatte sich deshalb ergeben, weil ihre Mutter an diesem regnerischen Herbstabend vor fast achtzehn Jahren ausgerechnet dann Spätdienst gehabt hatte, als ein gestresster Angestellter aus Rotterdam ihre Bar gewählt hatte, um seinen Kummer zu ertränken. Pieter van den Rhein hatte eigentlich einen guten Job im Europort gehabt, doch er hatte den Stress nicht mehr ertragen und es zudem aus tiefstem Herzen gehasst, im einem Büro zu arbeiten. Auf einer Geschäftsreise nach Hamburg war er abends dann in die Bar von Daniela gegangen und hatte irgendwann zwischen zwei Kurzen damit angefangen, ihr sein Herz auszuschütten: Wie sehr er seinen Job hasste, wie er unter dem Stress litt und dass er sich doch eigentlich ganz andere Dinge vom Leben erhofft hatte, Freiheit, Abenteuer und dass er schon immer den Traum gehabt hatte, ein Boot zu kaufen und damit um die Welt zu fahren. Daniela war eine gute Zuhörerin gewesen, hatte Pieters Sorgen ernstgenommen und ihn dazu ermutigt, tatsächlich ein Boot zu kaufen und seinen Traum wahr werden zu lassen. Und der Niederländer hatte sie beim Wort genommen, wirklich seinen Job geschmissen, sein Haus verkauft und dafür ein Hausboot erworben, das sich bald mit Gleichgesinnten gefüllt hatte. Als Pieter Daniela vor lauter Dankbarkeit für ihre Unterstützung eingeladen hatte, sich ihnen anzuschließen, hatte Celestes Mutter nicht lange überlegt: Sie war damals im zweiten Monat schwanger und obwohl sie bereits ein Arrangement mit Ramón getroffen hatte, wollte sie trotzdem definitiv nicht mit ihm zusammen leben – ihre Beziehung war nur von äußerst kurzer Dauer gewesen- und zudem ödete ihr Job in der Bar sie mehr und mehr an. Also hatte sie sofort eingewilligt, war auf Pieters Schiff Batavia gezogen und hatte Celeste schließlich in einer kleinen Klinik in der Bretagne zur Welt gebracht. Celeste war schon fast acht gewesen, als ihr zum ersten Mal dämmerte, dass sie ein alles andere als normales Leben führte. Statt in einer normalen Familie wuchs sie in einer Gemeinschaft von Leuten auf, die keine Lust mehr auf ihr altes Leben hatten, die Tage mit Faulenzen verbrachten, wenn sie sich nicht gerade mit Gelegenheitsjobs durchschlugen oder im Homeoffice arbeiteten und sich dennoch alle auf ihre eigene Weise um das kleine Mädchen kümmerten. Pieter hatte ihr Niederländisch beigebracht und ihr gezeigt, wie man ein Schiff steuerte. Von Klaus, einem ehemaligen Bankangestellten aus Düsseldorf, hatte sie zuerst Lesen und Schreiben gelernt, dann das kleine Einmaleins und später Englisch. Und selbst Jean-Luc Rouvier, ein Belgier, den Pieter noch aus Kindertagen kannte und der scheinbar keinen einzigen Tag seines Lebens mit echter Arbeit verbracht hatte, hatte Celeste in einem außer-gewöhnlichen Anfall von Aktivität Schwimmen und Tauchen beigebracht – er mochte faul wie ein sizilianische Katze sein, aber er hatte auch eine unbeholfen fürsorgliche Seite. All dies war seit frühester Kindheit ihr Leben gewesen, nur unterbrochen für ein halbes Jahr vor sieben Jahren, als ihre Großmutter plötzlich schwer erkrankt war und Daniela nach Hause zurückkehren musste, um sie zu pflegen. Sie hatte Bedenken gehabt, ihre Tochter allein auf dem Schiff zu lassen, doch die Wohnung ihrer Mutter wäre für drei Bewohner zu klein gewesen, daher hatte sie Celeste widerstrebend zu Ramón gebracht. Dieses halbe Jahr war die einzige Zeit in ihrem Leben gewesen, in der sie eine richtige Schule besucht hatte. Schon in frühester Kindheit hatte sie alles Mögliche wie nebenbei gelernt, später den nötigen Schulstoff per Fernkurs durchgearbeitet. Und so war es auch weitergegangen, als Daniela einige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter entschied, mit Celeste auf die Batavia zurückzukehren. Es gab kaum Druck oder Pflichten in ihrem Leben, Celeste konnte sich ihre Zeit selbst einteilen, tun und lassen ,was sie wollte, sah im Sommer alle paar Tage einen neuen Ort und floh im Winter mit den anderen Bewohnern der Batavia ins wärmere Mittelmeer. Und sie liebte dieses Leben auch. Aber es gab Momente, in denen sie sich fragte, was sie verpasst hatte und sich einfach danach sehnte, einen Ort zu haben, an den sie gehörte, einen Ort, an dem sie endlich einmal angekommen könnte. Das halbe Jahr in Hamburg war damals für sie eine mehr als große Umstellung gewesen, aber es hatte ihr auch klar vor Augen geführt, wie es war, irgendwo wirklich zu Hause zu sein. Und es gab keinen Moment, in dem sie dieses Bedürfnis danach so stark verspürte, wie während der Besuche bei ihrem Vater. „Nicht nur Mama mag dieses Leben, sondern auch ich“, sagte sie so überzeugend wie möglich. „Da bin ich wie sie, ich brauche meine Freiheit.“ „Deine Mutter braucht keine Freiheit, sie braucht einen Priester“, knurrte Ramón. „Der Wahnsinn hat sich doch längst in ihrer Seele eingenistet, irgendwer muss sie auf den rechten Weg zurückbringen. Ich weiß, dass sie glaubt, sie könne dieses Leben für immer führen, aber keiner von uns wird jünger und irgendwann muss sie sich irgendwo niederlassen! Und dann steht sie da, ohne Arbeit, ohne Geld, weil sie siebzehn Jahre auf diesem Schiff vom Geld anderer oder von Gelegenheitsjobs gelebt hat! Deine Mutter ist eine närrische Träumerin.“ Ramón Alba Galvez starrte seine Tochter wehmütig an und erschien in diesem Moment wie ein treuer Hund, der sein Leben damit verbringt, auf die Rückkehr seines Herrchens zu warten. Er mochte noch so wenig mit ihrem Äußeren oder ihrer Lebenseinstellung einverstanden sein, er liebte Celeste dennoch über alles und nun war er nicht mehr als ein Vater, den es förmlich zerriss, seine Tochter nur an einigen wenigen Tagen im Jahr zu sehen. „Du fehlst mir immer so, Cariña“, sagte er liebevoll. „Ist es denn so vermessen zu verlangen, dass ich meine wunderbare Tochter öfter als nur alle Jubeljahre zu sehen bekomme? Aber nein, ihre Mutter muss sich ja unbedingt für Fernando Magellan oder Robinson Crusoe halten! Und dann stehe ich da wie ein Esel vor dem Herren, wenn du wieder sonst wo bist!“ Celeste wurde das Herz schwer. „Ich weiß“, flüsterte sie nur. „Ich weiß.“ Später in der Bahn sah Celeste ihr Spiegelbild in der Scheibe und plötzlich setzten ihre Selbstzweifel wieder ein. Wer bin ich? Sie starrte ihre sanften, herzförmigen Gesichtszüge an, die zierliche Nase, ihre vollen Lippen, die vielfarbigen Augen. Ich sehe aus wie von überall und nirgends. Ich könnte sagen, ich wäre Spanierin und sie würden mir glauben- ich könnte aber auch sagen, ich wäre Deutsche oder Dänin oder Ukrainerin und keiner würde es bezweifeln. Aber wer bin ich überhaupt wirklich? Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Geboren war sie in Frankreich, aber sie besaß dank ihrer deutschen Mutter den deutschen Pass- und nur den deutschen Pass. Ihr Vater war Argentinier, lebte aber in Hamburg, und sie selbst kannte sich zwar sowohl in Argentinien als auch in Hamburg aus- und an tausend anderen Orten-, war aber an keinem davon zu Hause. Ihr Vorname war lateinamerikanisch, ihr offizieller Nachname eingedeutscht niederländisch und Alba, der Nachname ihres Vaters, den sie wenigstens für sich selbst angenommen hatte, wenn schon nicht offiziell, kam wiederum aus dem Spanischen. Ich könnte entscheiden, dass ich Argentinierin bin, den argentinischen Pass beantragen- aber kann ich das überhaupt sein, wenn ich nur ein paar Wochen dort verbracht habe? Andrerseits- ich bin offiziell Deutsche, aber verbringe den Großteil meines Lebens in anderen Ländern. Mit Mama spreche ich Deutsch und ich denke auch auf Deutsch, aber ich spreche außerdem noch Englisch, Spanisch und Niederländisch fließend und dazu genug Französisch, Italienisch und Portugiesisch, dass mich jeder Einheimische versteht. Geboren bin ich in einem Kaff in der Bretagne, das ich seitdem nicht wiedergesehen habe. Ohne dass sie die geringste Kontrolle darüber hatte, wanderten ihre Finger zu der Tätowierung in ihrem Nacken: Nyár örökre stand dort, ungarisch für „endloser Sommer.“ Das habe ich mir letzten Sommer in Budapest stechen lassen, als wir die Donau hinaufgefahren sind. Seit Jahren lebe ich quasi tatsächlich im Traum vom ewigen Sommer und noch letztes Jahr habe ich daran geglaubt. Aber wenn man ehrlich ist: Das kann so nicht auf Dauer gut gehen. Jeder Sommer endet irgendwann. Ich liebe das Vagabundenleben zwar, genieße es unglaublich, so viele Orte zu sehen und nichts und niemandem verpflichtet zu sein, aber ich kann nie irgendwo ankommen. Ich weiß, dass man nicht für immer so weiterleben kann, aber Mama lebt immer noch im Traum vom Sommer ohne Ende. Sie ist wie die Grille in der Geschichte, die die warmen Tage mit Singen vertrödelt und dann kommt der Winter. Reisen sind toll, aber was ist eine Reise schon ohne den Moment, wo man wieder nach Hause kommt? Und diesen Moment kann ich nie erleben. Denn ich habe keine Heimat. Als Celeste spät an diesem Abend auf die Batavia zurückkehrte, die in einer kleinen Marina an einem Nebenarm der Elbe lag, war ihre Mutter noch wach. Daniela Waterkamp saß auf dem Vorderdeck, einen Cocktail in der Hand, während ihre blaugrünen Augen auf den Horizont gerichtet waren. Ihre langen blonden Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden, das trotz erster Falten immer noch attraktive Gesicht war nur sparsam mit Makeup bedeckt. Sie drehte sich um, als sie ihre Tochter sah. „Celeste! Ich hab mich schon fast gefragt, wo du bleibst. Wie war es bei Papa?“ „Es wäre besser gewesen, wenn unsere gemeinsame Zeit nicht schon wieder nach ein paar Stunden vorbei gewesen wäre. Es kann mir noch so sehr gefallen, immer unterwegs zu sein, irgendwann möchte ich auch einfach ankommen. Ich hatte nie ein normales Leben oder ein Zuhause- wie soll ich dann wissen, wohin ich gehöre? Das alles hier war dein Traum. Aber ich frage dich: Wo bleibe ich, wo bleibt mein Leben in deinem Traum?“ Dies waren die Worte, die in Celestes Kopf entstanden und den Weg bis zu ihrer Zunge fanden. Deshalb war es wirklich schade, dass keine anderen Worte ihren Mund verließen als: „Gut. Wie immer.“
Es ist eine samtig dunkelblaue Nacht, durchzogen von grellen, gelben und orangenen Blitzen. Die Welt scheint in Aufruhr, so viel Bewegung, so viel Durcheinander. Unter diesem Himmelsspektakel sitzen klein und unscheinbar eine Katze und ein Hund und reichen sich die Pfoten. Frieden. „Jule, was denkst du?“ Ich drehe den Kopf weg von dem Bild und sehe meine Mutter an. Nicht dass ich ihr in die Augen sehen würde, denn das tue ich nie. Aber mit den Jahren habe ich gelernt, den Leuten zumindest ins Gesicht zu starren. Was ich denke… Ich denke so viel. Zu viel. Das Bild erinnert mich an das Chaos in meinem Kopf und an den Kampf mit mir selbst, überhaupt in diese Ausstellung zu gehen. Es erinnert mich daran, dass auch unsere Erde nicht ewig hält -nichts hält ewig, alles ist ergänglich- und daran, dass ich Taco, meinem Kater, nicht pünktlich sein Mittagessen servieren kann, weil ich mit meiner Mutter hier in diesem Raum, in dieser Ausstellung stehe. Und dann denke ich, dass ich es hasse, dass mein Tagesablauf durch ein so unruhiges, ungeordnetes Bild gestört wird. Aber wenn ich das sagen würde, das weiß ich genau, dann würde meine Mutter sagen: „Das ist doch wieder typisch autistisch.“ Also verschlucke ich meine Gedanken und antworte schlicht „Ich denke, dass dieses Bild einigermaßen gelungen ist.“ Typisch autistisch. Seit ich vor einem Monat die Diagnose Asperger Autismus bekommen habe, ist für meine Mutter scheinbar nichts mehr wie früher. Dabei sind es doch nur Worte, gedruckte Worte auf Papier, die mir eine Art zweiten Nachnamen geben: Jule Clausen Autistin. Dass ich in einer Rätselwelt lebe, habe ich nie in Frage gestellt. Alles, was um mich herum passiert, ist so laut und bunt und viel, dass ich keine Ahnung habe, wie andere Menschen damit klarkommen. Wie macht ihr das? Erst seit der Diagnose denke ich, dass vielleicht nicht die Welt das Rätsel ist, sondern ich. Als wir endlich (ENDLICH!) diese Kunstausstellung verlassen und nach Hause fahren (meine Mutter gesteht mir im Auto, dass wir nur hingefahren sind, weil Autisten ja so Superhirne und Spezialinteressen haben, die man fördern muss) drücke ich mich auf der Rückbank eng ans Fenster, schließe die Augen und stelle mir vor, endlich zu Hause zu sein. Meine Mutter ist noch dabei, das Auto einzuparken, da öffne ich schon die Tür und springe mit einem Satz ins Freie, ins sichere Terrain. Taco erwartet mich bereits an der Haustür, ich ziehe meinen Schlüssel aus der Jacken-tasche, öffne die Tür und fülle das Schälchen meines Katers mit Trocken-futter. So viel Zeit muss sein, und damit bin ich auch fast wieder in meinem gewohnten Zeitplan. Ich muss lächeln, als ich an den großen, minutiösen Tagesplan in meinem Kopf denke. Das ist auch so ein Phänomen in der Rätselwelt, das ich nicht verstehe. Dass Menschen einfach so in den Tag hinein leben, dass sie Sätze sagen wie „Heute nach der Arbeit gehe ich zum Badminton wenn ich Lust habe, vielleicht verbringe ich aber auch Zeit mit der Familie oder gehe einkaufen.“ Mein Tag ist von vorne bis hinten durchgetaktet. Und der nächste Programmpunkt ist mein Meerspaziergang. Ich laufe in mein Zimmer im Erdgeschoss unseres Hauses, meinen Rucksack habe ich gestern schon gepackt („Programmpunkt 18:30 Uhr: Rucksack für den nächsten Tag packen“) und so muss ich ihn nur noch aufsetzen und bin schon wieder halb aus der Tür, während meine Mutter immer noch mit den Autoschlüsseln hantiert. Ihr habt doch sicherlich auch schon mal gehört, dass Autisten Superbegabungen haben, oder? Da muss ich euch enttäuschen, ich bin nicht Superwoman und in der Schule auch nur ziemlich durchschnittlich. Aber ich liebe das Meer, speziell die Ostsee die an unser Haus grenzt, und ich weiß eine Menge darüber. Jeden Tag laufe ich den schmalen Sandpfad durch die Dünen hinunter ans Meer, und jeden Tag erwartet mich etwas anderes. Mal ist die Ostsee sanft und so ruhig, dass ich mich schnell umziehe und im Badeanzug ins Meer springe. Dann tauche ich so tief ich nur kann und beobachte mit großen Augen die winzigen Plattfische, kriechenden Krebse und die wogenden Algen. Ich tauche bis der Druck auf meinen Ohren nicht mehr erträglich ist, und dann tauche ich auf und lasse mich treiben, und die Ostsee schwappt wie eine sanfte Decke über mich. Und dann gibt es Tage wie heute, an denen die Ostsee wütet und braust und schäumt und mich mit ihrer Wildheit in ihren Bann zieht. An solchen Tagen kauere ich mich in meinen selbstgebauten Unterschlupf aus alten Brettern und schreibe Geschichten. Natürlich über die Ostsee. „Die Ostsee ist ein Kind im Vergleich zu den anderen Meeren. Sie ist nämlich das jüngste Meer, das es gibt. Ihre Bewohner sind bunt und vielfältig und von Natur aus zäh, denn wer nicht zäh ist, hat in der Ostsee keine Chance, weil…“ Ein Schnuppern unterbricht mich. Eine kleine Schnauze mit einer feuchten, schwarzen Nase schiebt sich in mein Versteck. Ich schaue kurz auf. Es kommt oft vor, dass die freilaufenden Hunde der Spaziergänger mein Versteck finden, kurz reinschauen und dann davonzuckeln. Ich finde Hunde okay. Ich glaube, sie leben auch in einer Art Rätselwelt bei ihren Herrchen, und darum kann ich sie gut verstehen. Aber ich finde es auch okay, wenn sie dann weiterziehen und ich meine Ostsee-Texte überarbeiten kann. Die Nase schnuppert weiter und langsam biegt auch der restliche Teil des Hundes um die Ecke. Es muss noch ein junger Hund sein. Vielleicht eine Art Labradorpudel? Sein Fell ist nass und karamellfarben, und er riecht nach Hund und Meer und Natur. Der Hund drängelt sich an mir vorbei in meinen Unterschlupf und rollt sich zu einer Kugel ein. Ungewöhnlich, aber das stört mich nicht. Ich sehe wieder auf meinen Text. „…weil die Ostsee teilweise Süß- und teilweise Salzwasser enthält und weil in manchen Teilen der Ostsee im Sommer kaum noch Sauerstoff vorhanden ist. Die Journalisten nennen das „Todeszonen“. Um das zu überstehen musst du echt hart im Nehmen sein.“ Ich schaue auf. Der Hund liegt immer noch neben mir. Da wo sein Fell meine Hose berührt spüre ich seine Meeresnässe. Ich beuge mich aus dem Versteck. Kein Spaziergänger zu sehen. Also schreibe ich weiter, verliere mich in den Worten über mein Lieblingsthema und höre draußen das Meer rauschen. Es wird dämmrig. Der Hund liegt immer noch neben mir. Sein Fell scheint etwas getrocknet zu sein, trotzdem verströmt er immer noch diesen beruhigenden Duft. Ich versuche erst gar nicht, den Hund zu verscheuchen, denn ich mag seine ruhige, angenehme Art. Stattdessen strecke ich meine Beine und stehe langsam auf. Der Hund folgt mir, aus dem Versteck und über den Sandweg hinüber zu unserem Haus. Auf dem Weg begegnen wir Taco. Ich habe ohnehin nichts dabei, um den Hund festzuhalten, also sehe ich nur zu, als der Hund mit zuckender Nase auf Taco zugeht. Die beiden sehen sich an, Schnauze an Nase, dann geht Taco seines Weges und der Hund folgt mir zu unserem Haus. Das ist der Moment, in dem ich weiß, der Hund gehört nun zu mir. Taco hat ihn akzeptiert, und Tacos Meinung ist mir die wichtigste überhaupt, wichtiger als all die Menschenmeinungen, die sich ständig ändern. Als ich ins Haus komme, sitzt meine Mutter auf dem Sofa vor dem Fernseher, gebannt auf den Bildschirm starrend. Ich klettere in meinen Hängesessel, der neben dem Sofa hängt. Ich liebe es, mich darin ein-zukuscheln. Auf dem Sofa habe ich immer das Gefühl, da ist so viel Platz, dass ich auseinanderfalle. Der Hund legt sich unter meinen Hängesessel, die Vorderpfoten elegant überkreuzt. Erst bemerkt ihn meine Mutter nicht. Sie begrüßt mich mit einem kurzen „Hallo Jule, wie war’s am Meer?“ und schaut weiter auf den Fernseher. Ich weiß, dass ich auf diese Frage keine Antwort geben muss, meine Mutter stellt sie jeden Abend, also schweige ich, strecke nur einen bestrumpften Fuß aus meinem Hängesessel und streichle damit dem Hund über den Rücken. Er soll Argo heißen, beschließe ich, wie die Argonauten. Als ich noch in die Grundschule ging, waren die meine Helden. Andere Kinder mochte Spongebob, ich die Argonauten. So ist das Leben. So ist mein Autismus. Und vielleicht war das der Punkt in meinem Leben, an dem Gleichaltrige anfingen, mich seltsam zu finden. In der Werbepause schaut meine Mutter auf und entdeckt Argo. „Jule? Was macht der Hund da?“ Sie schaut auf meinen zufriedenen Karamellhund hinunter. Ich zögere. „Das ist Argo, Mama. Mein Hund. Er hat kein Zuhause und Taco hat ihn akzeptiert, also kann er doch bei mir wohnen, oder?“ Meine Mutter zerknautscht ihr Gesicht. „Du weißt, dass ich Hunde mag, aber…“ Ich unterbreche sie. Das mache ich sonst nie, weil ich Unterbrecher hasse, aber jetzt muss ich kämpfen, für Argo. „Ich werde Zettel aufhängen, dass wir ihn gefunden haben, okay? Und wenn sich niemand meldet bleibt er. Bitte.“ Am nächsten Tag laufe ich in die Stadt. Unsere Stadt ist klein im Verhältnis zu anderen Städten, das weiß ich, aber mir ist sie immer noch zehn Nummern zu groß. Darum trage ich auch eine Sonnenbrille. Ich fühle mich dann fast unsichtbar, und das macht das Ganze erträglicher. Aber heute brauche ich keine Sonnenbrille, denn Argo ist neben mir. Ich habe ihm aus Tauen ein primitives Halsband mit Leine gebastelt, und er trottet mit einer unglaublichen Sicherheit durch die Straßen. Mit Argo neben mir traue ich mich sogar, die Menschen zu grüßen, die ich kenne. Das vermeide ich normalerweise, weil ich eine Niete im Smalltalk bin, aber Argo gibt mir Kraft. Und so laufen wir, der karamellfarbene Hund, den ich erst seit einem Tag kenne, und ich, und es fühlt sich wunderbar und vertraut an. Zu vertraut, um ihn je wieder herzugeben. Zu vertraut, um Suchzettel aufzuhängen. Ich weiß, ich werde meine Mutter nicht anlügen können. Sie durchschaut mich immer. Also hole ich den Packen Zettel aus meinem Rucksack und beginne, sie in der Stadt aufzuhängen. Hinter Schildern und Laternen, in schmalen Seitengassen und dunklen Ecken. Vielleicht ist das nicht fair, und es entspricht bestimmt nicht den Vorstellungen meiner Mutter, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass jemand Argo auf den Zetteln erkennt und anruft und ihn mir wegnimmt. Mein Plan geht auf, es meldet sich niemand, und Argo und ich verbringen einen wunderbaren Sommer zusammen, den ich nur mit einem Wort beschreiben kann: Voll. Voll von Lachen und Argos Gebell, voll von Abenteuern und Wärme. Argo stört meine Routinen nicht, aber er verändert sie zum Besseren. Mein Notizbuch mit den Ostseegeschichten lege ich ganz hinten in meine Schreibtischschublade. Im Winter werde ich weiterschreiben, denke ich. Stattdessen gehen Argo und ich schwimmen oder rennen durch die Brandung; ich im Badeanzug, Argo in großen Freudensprüngen neben mir. Nachts schlafe ich wenig, die meiste Zeit sitze ich neben meiner Nachttischlampe auf dem Boden und lese Sachbücher über Hunde. Und ich beginne, meinen Karamellhund zu erziehen. Bald geht er annehmbar bei Fuß und hört jederzeit auf meine Rufe nach ihm. Wir gehen oft in die Stadt, um ein Eis zu essen, so oft war ich in meinem gesamten Leben nicht in der Stadt. Wenn mir der Menschentrubel zu viel wird drücke ich mich an Argo, und mein Hund ist wie ein Fels in der Brandung, der verhindert, dass ich wegfließe. An manchen Tagen stehen Argo und ich noch vor meiner Mutter auf, frühstücken und schleichen uns aus dem Haus. Dann nehmen wir den extra frühen Bus, in dem nur wenige Passagiere sitzen, und fahren in ein großes Waldgebiet. Wälder sind gleich nach Meeren und Stränden meine liebsten Orte. Wenn mein Hund und ich im Wald sind, atme ich den Geruch nach Erde und Harz und Bäumen tief ein, lasse mich vollkommen davon erfüllen. Dann streifen wir durchs Unterholz, immer auf der Suche nach Wildtiertrampelpfaden. Einmal sehen wir sogar eine Ringelnatter, die sich auf einem Flecken Erde sonnt. Ich bin glücklich. Ich habe Ferien, Freiheit und den wunderbarsten Hund der Welt. Wozu brauche ich da noch Menschen? Meine Mutter sehe ich oft erst abends, wenn ich verschwitzt und zufrieden zurückkomme. Ich weiß nicht, ob sie mich vermisst, oder ob sie froh ist, dass ich meine Tage mit Argo verbringe. Ich kann nämlich manchmal ziemlich anstrengend sein. „Typisch autistisch“ würde meine Mutter wohl sagen. Aber mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich antworten würde „Typisch ich!“ Unser Sommerglück endet eine Woche vor Schulbeginn. Ich habe mir schon erträumt, wie ich Argo mit in die Schule nehme, und wie dann die Anderen nicht mehr gemein sein würden, sondern mich und meinen Hund schätzen und respektieren würden. Diese Vorstellung war wunderbar. Da klopft es eines Morgens, als ich mir gerade die Schuhe anziehe und Argo die Leine umlege, an der Tür. Mit Argo dicht bei mir traue ich mich, die Haustür zu öffnen. Draußen steht ein Bartträger, ziemlich groß, in kurzer Hose und Sandalen. Vorsichtig schaue ich in sein Gesicht. Er scheint mich anzulächeln. „Hallo“ sage ich unsicher. Argo hingegen wedelt so freudig mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil mitwackelt. Und vielleicht weiß ich es da schon. Dass Argo zu diesem Mann gehört. Dass meine Flugblätter doch nicht unbemerkt geblieben sind. Meine Mutter kommt und bietet dem Bartträger einen Sitzplatz auf unserer Terrasse an. Der Mann beginnt zu erzählen. „Vor drei Monaten haben meine Frau und ich einen jungen Hund aus dem Tierheim adoptiert. Wir sind totale Tiernarren und verbrachten viel Zeit mit Bo, so heißt unser Hund. Trotzdem büxte er uns eines Tages bei einem Spaziergang aus, und wir fanden ihn einfach nicht wieder. Erst gestern haben wir ein Flugblatt entdeckt und wussten sofort; unser Bo ist noch am Leben. Wir waren so erleichtert!“ Es entsteht ein unangenehmes Schweigen. „Sie müssen entschuldigen, meine Tochter spricht mit Fremden wenig, sie ist autis…“ Ich unterbreche sie. Wieder. „Es war, als wäre er direkt aus dem Meer gekommen. Es war so stürmisch und ich saß in den Dünen, und dann war er auf einmal da…“ erzähle ich leise. „Argo ist mein bester Freund. Nach den Ferien begleitet er mich in die Schule.“ Der Bartträger räuspert sich. „Das klingt sehr schön, und ich bin froh, dass Bo hier so gut aufgehoben war. Trotzdem würde ich ihn jetzt gerne mitnehmen.“ Wortlos stehe ich auf und gehe. Ich weiß, wer sein Tier wirklich liebt, der bleibt bei ihm bis zum Schluss. Aber ich ertrage das Ende von Argo und mir einfach nicht. Ich gehe in mein Zimmer, mache die Tür zu und hole meine Ostseegeschichten aus der Schublade. Ich schreibe und schreibe, und als ich wieder aus meinem Zimmer komme, ist Argo fort. Die nächste Zeit ist grau und düster, obwohl die Sonne scheint und der Himmel blau ist. Ich rede noch weniger als sonst, also praktisch gar nicht, meine Klassenkameraden verstehen mich weiterhin nicht, irgendwie ist alles beim Alten. Nur fühlt es sich an, als hätte jemand aus einem Farbfilm einen Schwarz-Weiß-Film gemacht. Ich glaube, so fühlt sich Vermissen an. Ich habe früher nichts vermisst. Aber jetzt vermisse ich Argo, unendlich doll. Dann kommt Weihnachten. Ich wünsche mir, wie jedes Jahr, nur Bücher, und schenke meiner Mutter, wie jedes Jahr, Schokolade. Die Lichter am Tannenbaum brennen, und der schwache Duft nach Harz erinnert mich an die Sommertage mit Argo. Stumm packe ich all meine Bücher aus, bringe nur ein „Vielen Dank“ hervor. Meine Mutter scheint sich über meine Schokolade zu freuen, meint dann aber, dass sie kurz runter ans Meer muss. Ich verstehe nicht, im Gegensatz zu mir ist meine Mutter kein leidenschaftlicher Meermensch. Ich verfolge auf meiner Armbanduhr, wie Sekunden, wie Minuten verstreichen, ich sitze einfach da und schaue. Dann geht die Tür auf. Und mir entgegen springt Argo, mein Karamellhund. Ungläubig bleibe ich sitzen und werde von ihm fast umgeworfen, denn in den Letzen Monaten ist er ein ganzes Stück größer und stärker geworden. Stumm halte ich mich an ihm fest, und spüre seine Stärke, seinen Mut, seine Kraft, und die Welt bekommt wieder Farbe. In der Tür stehen meine Mutter und der Bartträger. „Da ist er, dein Hund aus dem Meer“ sagt meine Mutter lächelnd. Und der Bartträger fügt hinzu: „Was zusammengehört soll man nicht trennen.“ An diesem Abend liege ich in meinem Bett und quetsche mich an die Wand, weil Argo (mein Hund!) mindestens 65% der Fläche beansprucht. Ich bin glücklich. Und ich muss an diesen ersten Tag denken, an dem meine Mutter und ich in der Kunstausstellung waren und Argo und ich uns zum ersten Mal getroffen haben. Ich erinnere mich an das Bild in der Ausstellung, auf dem sich Katze und Hund die Pfoten reichten und trotz allem Trubel Frieden war. Taco und Argo. Katze und Hund. Zwei Freunde an meiner Seite. Und plötzlich bin ich mir ganz sicher, dass ich ab diesem Tag nie mehr allein durch diese Rätselwelt laufen werde. Und es gibt keinen, wirklich keinen Gedanken, der mich glücklicher machen würde
Es war einmal ein Mann, der war auf der ganzen Welt dafür bekannt, dass er die Kunst seines Handwerks wie kein Zweiter beherrschte. Und sein Handwerk war ein ganz sonderbares, denn wie der Drechsler drechselte, wie der Schneider schneiderte, wie der Maurer mauerte und wie der Schmied schmiedete, so konnte der Glücksmacher, so sagte man, Glück machen. Der Glücksmacher liebte sein Handwerk und er war ein freundlicher Mann, also teilte er es mit den Menschen. Und so ging er durch die Welt, mit schweren Stiefeln und leichtem Herzen, um Glück zu machen. Und wie er so durch die Welt ging, da kam er eines schönen Tages an einem Stuhl vorbei. Auf dem Stuhl saß eine Frau, die Schultern gebeugt von einer unsichtbaren Last. ,,Meine Teure”, sagte der Glücksmacher, ,,wie kann ich dir helfen, wie kann ich dich glücklich machen?” Und sie antwortete: ,,Das kannst du nicht, das kannst du nicht! Mein Herz ist ganz schwer vor Sorgen, nichts vermag meine düsteren Gedanken zu durchdringen und ich weiß nicht einmal, warum. Ach, könntest du doch nur meinen Kummer von mir nehmen, aber das kannst du nicht!” Da nahm der Glücksmacher ihre Hände zwischen die seinen und wie er sie wieder fortnahm, da war ihre Schwermut vorüber. Der Glücksmacher ging seines Weges und die Frau war überglücklich. Doch schon bald zog ein Unwetter herauf und da setzte sie sich, wie man das eben so macht bei einem Unwetter, in ihr Stüblein und las ein Buch. Da huschte das Glück ihr davon, denn es hatte Angst vor Unwettern und außerdem wollte es zurück zu seinem Meister. Als das Glück den Glücksmacher eingeholt hatte, da konnte er es nicht wieder fortschicken, denn bei dem Gedanken daran wurde ihm das Herz ganz schwer. Und so ging er, das Glück auf seinen Schultern, mit schweren Stiefeln und leichtem Herzen weiter durch die Welt, um Glück zu machen. Und wie er so durch die Welt ging, da kam er eines schönen Tages an einem Bett vorbei. In dem Bett lag ein Mädchen, das Gesicht ganz blass und die Arme ganz schwach. ,,Meine Kleine”, sagte der Glücksmacher, ,,wie kann ich dir helfen, wie kann ich dich glücklich machen?” Und sie antwortete: ,,Das kannst du nicht, das kannst du nicht! Mein ganzes kurzes Leben schon bin ich krank, alles hat man schon zu meiner Heilung versucht und ein Jeder hat es schon versucht. Ach, könntest du meine Krankheit doch nur wegmachen, aber das kannst du nicht!” Da nahm der Glücksmacher ihre Hände zwischen die seinen und wie er sie wieder fortnahm, da war das Mädchen von seiner Krankheit geheilt. Der Glücksmacher ging seines Weges und das Mädchen war überglücklich. Doch schon bald wurde es Nacht und da legte sie sich, wie man das eben so macht in der Nacht, in ihr Bettlein und schlief ein. Da schlich sich das Glück davon, denn es hatte Angst vor der Dunkelheit und außerdem wollte es zurück zu seinem Meister. Als das Glück den Glücksmacher eingeholt hatte, da konnte er es nicht wieder fortschicken, denn bei dem Gedanken daran wurde ihm das Herz ganz schwer. Und so ging er, das Glück auf seinen Schultern, mit schweren Stiefeln und leichtem Herzen weiter durch die Welt, um Glück zu machen. Und wie er so durch die Welt ging, da kam er eines schönen Tages an einer Bank vorbei. Auf der Bank saß ein Mann, ganz schick zurechtgemacht mit einem Seufzer auf den Lippen. ,,Mein Guter”, sagte der Glücksmacher, ,,wie kann ich dir helfen, wie kann ich dich glücklich machen?” Und er antwortete: ,,Das kannst du nicht, das kannst du nicht! Ich soll heute noch heiraten, nie haben wir gestritten in all den Jahren und trotzdem ist mir nun ganz bang. Ach, könntest du meine Zweifel doch nur verschwinden lassen, aber das kannst du nicht!” Da nahm der Glücksmacher seine Hände zwischen die seinen und wie er sie wieder fortnahm, da waren seine Bedenken vergangen. Der Glücksmacher ging seines Weges und der Mann war überglücklich. Doch schon bald wurde es Herbst und da machte er, wie man das eben so macht im Herbst, einen Spaziergang durch den Wald. Da stahl sich das Glück davon, denn es hatte Angst vor herunterfallenden Blättern und außerdem wollte es zurück zu seinem Meister. Als das Glück den Glücksmacher eingeholt hatte, da konnte er es nicht wieder fortschicken, denn bei dem Gedanken daran wurde ihm das Herz ganz schwer. Und so könnte man noch viele Geschichten erzählen, wie der Glücksmacher, das Glück auf seinen Schultern, mit leichtem Herzen weiter durch die Welt geht, um Glück zu machen, so weit ihn seine schweren Stiefel gehen lassen. Denn der Glücksmacher, so sagt man, kommt bei jedem einmal vorbei. So wird er auch zu dir kommen, um das Glück in deine Hände zu legen. Welches Unglück wirst du ihm dann klagen und wie lange wirst du warten?
Angelina Bock erhielt im Literaturhaus den 3. Preis für ihr modernes Märchen vom Glück. FOTO: M. EHRHARDT
Der Junge Literaturpreis SH wurde zum dritten Mal vergeben
von Jörg Meyer
Viel Glück konnte die Jury den drei Gewinnern des Jungen Literaturpreises Schleswig-Holstein 2019 wünschen. Am vom Verein der Freunde des Literaturhauses SH zum dritten Mal ausgeschriebenen Wettbewerb hatten 35 Autoren und Autorinnen zwischen 14 und 20 Jahren teilgenommen, vermehrt auch aus dem ganzen Land, worüber sich Jury-Mitglied Gisela Beissenhirtz besonders freute. Der mit insgesamt 500 Euro dotierte Wettbewerb sei nicht mehr so „Kielzentriert“ wie bisher. Auch die Qualität der eingereichten Prosatexte sei deutlich gestiegen, so dass es die Jury bei ihrer Entscheidung nicht leicht hatte. Den 1. Preis gewann Nicolas Geissler mit ‚Auch der ewige Sommer muss enden‘. In einer Art Coming-of-Age-Geschichte trifft Celeste nach längerer Zeit ihren Vater wieder, weil sie Zukunftsängste plagen. Wie ihre (getrennten) Eltern ist sie eine Vagabundin, was einerseits Freiheit, aber auch Heimatlosigkeit bedeutet. Den „himmelblauen“, hippiehaften, ja, aus ihrer Sicht reichlich „blauäugigen“ Lebensentwurf ihrer Eltern (die Mutter lebt auf einem Hausboot) hat sie einerseits übernommen, andererseits opponiert sie dagegen, weil sie sich auf der Suche nach dem eigenen Glück nirgendwo „angekommen“ fühlen kann. Die Jury lobte vor allem die „unaufgeregte“ Präzision, mit der die inneren Zustände der Protagonistin in äußeren Bildern reflektiert werden, die eben ganz und gar nicht „himmelblau“ seien. Um eine ungewöhnliche Sicht auf die „Rätselwelt“ geht es auch in ‚Der Hund, der aus dem Meer kam‘, womit Luisa Linkersdörfer den 2. Preis gewann. Jule ist Autistin, was ihre „Seltsamkeit“ zwar ihrer Umwelt erklärt, nicht aber ihr. Denn was ist schon „normal“ und was „abgerückt“? Und warum versteht sie sich mit einem zugelaufenen Hund besser als mit den Menschen und diese mit ihr? Konsequent versetzt die Autorin den Leser in die Perspektive der Ich-Erzählerin auf eine „viel zu volle“ Welt, zu deren Geheimnis vielleicht doch eher sie als die „Normalen“ einen glücklichen Zugang hat. „Es war einmal“, „eines schönen Tages“, so beginnen Märchen und spinnen sich fort. Auch das vom Glücksmacher. Angelina Bock „bedient“ das Genre und parodiert es zugleich. Was vom Klang her und in der Faktur fast aus der originalen Feder der Gebrüder Grimm stammen könnte, ist ein ganz modernes Märchen vom Glück – und seiner ewigen Flüchtigkeit. Dazu beglückwünschte sie die Jury mit dem 3. Preis. Und ein weiterer Glücksfall: Auch 2020 wird der Junge Literaturpreis SH wieder ausgeschrieben und hat sich damit verstetigt.
Traditionell am Buß- und Bettag 2018 fand unser Freundeskreisabend mit 3 Kieler Buchhändlern statt. Herzlichen Dank an die Mitwirkenden Hauke Harder, Buchhandlung Almut Schmidt, Meike Lalowski, Wiker Buchhandlung, Herrn Harald Mücke, Zapata.
Wie in den vergangenen Jahren auch, war diesmal wieder für jeden literarischen Geschmack etwas dabei, vom ‚Kiel-Krimi‘ über den Matrosenaufstand bis zu Selma Lagerlöf wurde vieles abwechslungsreich präsentiert. Mit Witz und Charme wurden die Bücher in einer sehr kurzweiligen Weise vorgestellt. Die drei Buchhändler wirkten wie ein eingespieltes Team, das sich gegenseitig ergänzte.
Für das leibliche Wohl war wieder bestens gesorgt. In der Pause gab es ein – von Mitgliedern des Freundeskreises – erstelltes Buffet. Auf jeden Geschmack wurde eingegangen, von veganer Kost, über Mettbrote bis zum süßen Kuchen, war alles vorhanden.
Unsere Helfer waren in diesem Jahr: Gisela Beissenhirtz, Karin Bündgens, Heike Bunzen, Nana Fahl, Angelika Faust, Illa Feldmann, Ulli Gehl, Regina Gehrts, Doris Havemann, Lydia Heil, Barbara und Stephan Ratschow und Waltraut Ruppel, DANKE! Ich hoffe, ich habe keinen vergessen.
Die Aufnahmen für den Offenen Kanal übernahm freundlicherweise Alisa Woronow vom Literaturhaus, vielen Dank dafür.
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